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Infanta (German Edition)

Infanta (German Edition)

Titel: Infanta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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Butterworth blinzelte. War er zu weit gegangen? Sicher. Jedes Schreiben ging letztlich zu weit. Doch er brachte keinen Strich übers Herz, keinen Strich, der am Ende mehr als das Gestrichene sagte.
    Die Spieluhrmusik erklang. Der bleiche Priester trat ans Fenster und dankte seinem Schöpfergott für den glücklichen Ausgang der Krise; und plötzlich war er fest entschlossen, alle Vorgänge auf der Station lückenlos festzuhalten. Nur Entgleisungen wie kürzlich würde er sich wieder in Stunden der Schlaflosigkeit selber erzählen. Butterworth ordnete seine Blätter und horchte nach nebenan. McEllis hatte aufgegeben – entweder schlief er, oder er betete. Jedenfalls notierte er nicht. Und dabei würde es ihn jetzt gar nicht mehr stören. Im Gegenteil, man könnte sich austauschen . . . In aller Ruhe las sich Butterworth das Geschriebene durch. Fehlte da nicht ein Wort über den Körper von Mister Kurt? Das Papier sollte ja Hand und Fuß haben. Und von der Morgensonne beflügelt, schrieb er den Satz: »Seine Statur erinnert uns an gefällige Christusdarstellungen, schlank, federnd und ein wenig lasziv.«
    Morgendliche Strenge umgab die Priester während des Frühstücks. Die Sonne stand bereits groß über den Waldkuppen jenseits des Tals, ihr Licht schoß durch Baumkronen und verdampfenden Tau und wärmte den Raum; es roch nach Holz und Milchbrei. Ohne von den Tellern aufzusehen, besprach man fällige Reparaturen. Als Butterworth über die Kosten den Kopf schüttelte, gab der Novize zu erkennen, daß er auch handwerkliches Talent besitze – ein gewagter Vorstoß. Zwar kannte Augustin den Brief von Father Demetrio nicht, in dem sein Kommen angekündigt worden war, hatte jedoch Kenntnis von dessen Existenz und ahnte damit den Inhalt. Sein Tun und Lassen sollte beobachtet werden. Also auch Hilfeleistungen, die nach der Demetrio’schen Psychologie nur Punkte brachten, wenn man sich nicht um sie bewarb, was sogar zu Abzügen führte. »Deine Aufgabe hier heißt Father Horgan«, bemerkte Pacquin. »Aber falls du für heute einen Vertreter findest, vielleicht unseren Gast, könntest du dich als Handwerker nützlich machen. Und zwar zunächst in der Küche. Dort ist ein Hahn defekt. Wenn Mayla später die Wäsche aufhängt, kannst du ihn ungestört reparieren. Sofern Mister Kurt dich vertritt.«
    Kurt Lukas sagte nichts. Er war gerade erst hereingekommen. Die Hitze hatte ihn geweckt. Alles tat ihm weh; noch nie im Leben war er auf einem Stuhl eingeschlafen. Er aß und trank. Man hatte ihm reichlich übriggelassen. Vom Eierkuchen für zwei, vom Corned beef für drei, dazu Reis und eine Schüssel Lansonisfrüchte mit ihrem hellen bittersüßen Fleisch. Offenbar sollte er sich stärken. Aber wofür? Oder nach welchem Verschleiß? Alle sahen ihn an, und er nickte Augustin zu: »Wenn Father Horgan nichts dagegen hat . . .«
    Horgan hatte nicht das geringste dagegen. »Ich wäre dann bereit für die Veranda«, flüsterte er nach dem Frühstück. Dort angekommen, wechselte er den Stuhl. Mit der Langsamkeit einer Raupe brachte er zuerst die Füße in eine festgelegte Stellung zueinander. Als das erreicht war, stemmte er sich aus eigener Kraft hoch. Seine Arme zitterten wie Baßsaiten. Während der schwierigsten Phase, als Horgan sekundenlang frei stand, den Blick auf den Boden geheftet, nicht mehr Teil seines Rollstuhls war und noch nicht Teil des Lesestuhls, konnte Kurt Lukas kaum zuschauen. Es zog sich hin wie ein stilles Gebet, bis der Priester endlich hinter sich griff, die Lehnen des Lesestuhls ertastete und nach einem minutiösen seitlichen Versetzen der Füße eine Position erreicht hatte, von der aus er sich einfach zurückfallen ließ; über die Wirkung des Stuhlwechsels auf andere Menschen war sich Horgan seit langem im klaren. Er sammelte Kräfte. Schließlich hauchte er: »Reichen Sie mir mein Buch, Mister Kurt. Und jetzt setzen Sie sich in den Rollstuhl. Er ist komfortabler, als man denkt.« Horgan schloß die Augen, nahm das schmale Buch in seine rechte Hand und bewegte es ein Stück durch die Luft. Und überraschend deutlich stellte er fest:
    »Sie haben Aufschlag.«
    West-Virginia kam auf die Veranda und rollte sich in ihren Vormittagsschlaf. »Ich hoffe, Ihr Service ist anständig«, fügte Horgan hinzu.
    »Manchmal ja, manchmal nein.«
    »In diesem Fall offenbar nein«, bemerkte der Priester, »Null-fünfzehn.« Horgans Stimme bekam den gleichgültigen Klang aller Tennisspieler, die ihre Punkte selbst zählen

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