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Infanta (German Edition)

Infanta (German Edition)

Titel: Infanta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
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sie ab, um mit einer unnachahmlichen Bewegung ihren Schirm neu zu krümmen. Sein Gesicht begann erst unterhalb dieses Schirms, mit Augen, die immer irgendeine Winzigkeit fixierten, und Wangen, in denen je eine Nuß Platz gehabt hätte; seine Nase war schief und spitz, sein Mund erinnerte an einen verbogenen Nagel. Knappsack lächelte selten und sprach nur über Dinge in Verbindung mit seiner Musik. Aber damit ließ sich fast alles verbinden. Der ganze Mensch, sein Aufbäumen gegen die Traurigkeit, sein Jubel bei der Entdeckung des Glücks, sein Hoffen auf Wiederkehr, sein Trost in der Erinnerung, war für ihn in einem Dutzend Schlager enthalten, sicher versteckt in simplen Melodien und albernen Texten.
    Trotz der Schnupfengeräusche zeigte der Australier an diesem Abend sein seltenes Lächeln, als Hazel, noch vollständig bekleidet, die Bude durchschritt. Sie bedeutete ihm alles, was er mangels eines besseren Worts Kameradschaft nannte. Knappsack wirbelte noch einmal nach allen Seiten, bedankte sich für den Applaus durch knappes Salutieren und ging zur Musiktruhe – Doña Elvira wollte ihren Auftritt mit einem Lied beschließen, das zu den bedeutendsten seiner Sammlung zählte. Im Vertrauen, daß ihr Talent größer sei als ihre Erkältung, drückte er die Knöpfe, und noch müheloser als sonst übertönte sie das kratzige Original, mit eindrucksvoll tränenden Augen vom Schnupfen. Nie hatte sie schöner Wenn ich weine, dann bei Regen gesungen; die nächsten zwei Stunden gehörten den Amateuren.
    Als Kurt Lukas die Bude betrat, überschlugen sich Spott und Begeisterung – Romulus war auf dem Weg zur Bühne. Der frühere Boxer hatte Aschenbecher, Spickzettel, Feuerzeug und Zigaretten dabei, und mit dem Angehen der Schummerbeleuchtung unter Ferdinands Regie und den ersten Tönen von Jeder braucht irgendwen irgendwann hätte Romulus eigentlich drei Hände gebraucht. Er mußte rauchen, er mußte singen, er mußte die Asche abstreifen und nebenbei auch noch in den Text schauen, und das alles wie Dean Martin. Der Schweiß lief ihm in Strömen, die Melodie lief ihm davon, er kämpfte, als stünde er wieder im Ring, den Blick auf die leuchtende Truhe geheftet.
    Kurt Lukas lehnte an dem alten Kasten.
    »Singst du als nächster?« fragte ihn der Australier.
    »Ich kann nicht singen.«
    »Jeder kann singen.«
    »Ich nicht.«
    »Geh auf die Bühne, fang an.« Ben Knappsack nahm seine Kappe ab und krümmte den Schirm neu, und in diesem Moment begriff Kurt Lukas, wer vor ihm stand: der Pilot, von dem Gussmann erzählt hatte.
    Knappsack hielt ein Mikrophon mit langer Schnur in der Hand; wollte niemand auftreten, zog er damit herum und kaperte die Halbentschlossenen. »Lebt sich nicht gut in dem Jahrhundert, wenn man kein Sänger ist«, rief er, während seine krabbenflinken Finger einen Dreivierteltakt auf das Mikrophon tippten. In den Lautsprechern krachte es, Romulus fluchte, sein Textzettelchen flatterte davon, die Zigarettenasche fiel ihm auf die Hose. »Gleich ist die Bühne frei«, bemerkte der Australier.
    »Ich kann nicht singen.«
    »Vielleicht brauchst du nur ein besonderes Lied.«
    Ben Knappsack beugte sich über die Box und erwähnte seine Liebhaberstücke. Es hatte ihn Jahre gekostet, sich bei der Flut alter Platten für wenige zu entscheiden. Die Hälfte befand sich auf dem Grunde des Koffers, aus dem er lebte, die übrigen in der Truhe, ohne im Titelverzeichnis aufzutauchen. Keiner außer ihm konnte sie wählen; er warf Münzen ein und drückte die Tasten mit einer Geschwindigkeit, die es unmöglich machte, den Code zu erfassen.
    »Doña Elvira erzählte, du hättest hier ein Mädchen.«
    »Woher weiß sie das?«
    »Sie weiß alles.«
    Kurt Lukas sah in die Truhe. Der Kranz aus Platten drehte sich beschaulich, ehe er unerwartet, mit einem Nachzittern aller Scheiben, stehenblieb.
    »Also kennst du ein Mädchen?«
    »Ja.«
    »Und? Ist sie hübsch?« fragte Knappsack.
    »Sie ist sehr hübsch.«
    »Du siehst sie vor dir?«
    Kurt Lukas lächelte.
    Ein Knistern kam aus der Box.
    »Du siehst, wie sie die Straße runterläuft?«
    »Ich kann es mir vorstellen«, sagte er, und im selben Moment drangen ihm zwei Akkorde, jeder wie eine sanft geführte Nadel, bis hinter die Augen – Da da di da daah . . . Da da di da dii da da daah . . .
    »Siehst du sie wirklich?« fragte Knappsack noch einmal. »Ja«, rief Kurt Lukas, »ja doch, ich seh’ sie!« Und schon klang es aus dem Kasten und aus den Bühnenlautsprechern,

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