Infantizid
Das ging fast jeden Tag so.
Ich habe noch keines der Gesichter jemals gesehen, dachte der Bordmechaniker und zündete sich eine Machorka an. Sie springen immer mit diesen Sturmhauben. Was kümmert es mich. Hauptsache, wir können fliegen in diesen schwierigen Zeiten. Bei vielen anderen Transportgeschwadern fehlte das Geld für Sprit und Ersatzteile.
Er blies den Zigarettenrauch in Richtung seiner Instrumente, die ihm anzeigten, dass alles im grünen Bereich war.
Im Frachtraum roch es nach Ãl, Benzin, Auspuffgasen und dem Schweià der Männer. An der Decke der AN-12 verliefen hydraulische Leitungen. Nach Reparaturarbeiten wurden diese schon lange nicht mehr in ihren ursprünglichen Zustand versetzt und verkleidet. Wozu auch? Einige undichte Stellen hatte man mit Lappen umwickelt und mit einfachen Stricken verknotet. Die Fallschirmspringer, die seit über einer Stunde flogen, saÃen in vier Reihen. Alles an ihnen war schwarz. Ihre Kampfanzüge, vollgestopft mit Ausrüstungsgegenständen, die Handschuhe, Helme, Brillen, Kampfmesser sowie die Fallschirme und Tornister, die zwischen ihren Beinen befestigt waren. Sie hockten auf den Sitzen, an die Bordwand gelehnt oder sich vornübergebeugt auf die Knie stützend. In ein paar Minuten würden sie sich sprungbereit machen und durch die geöffnete Ladeluke in die Tiefe stürzen. Diese Gruppe absolvierte gerade die letzte Phase der Ausbildung: Höhensprünge. Die Maschine befand sich weitab des Luftkorridors für Passagierflugzeuge, die üblicherweise auf diesem Level flogen. Die Piloten hatten mehrfach den Kurs gewechselt, da man kein Interesse daran hatte, erkannt zu werden. Nur ab und zu und für ganz kurze Zeit tauchten sie auf den Radarschirmen der Flugüberwachung auf. Die heutige Ãbung hatte zwei Ziele. Zum einen sollten die Männer sich daran gewöhnen, aus so groÃer Entfernung zum Boden mit einer zusätzlichen Sauerstoffausrüstung zu springen, und zum anderen die Fallschirme nach einer langen Freifallzeit exakt in 300 Metern über Grund öffnen. Es war ein Teil des besonderen Angriffsplans. Die Männer kamen von weit oben und die Zeit, die sie an den geöffneten Fallschirmen hingen, war sehr kurz. Kaum möglich, sie zu attackieren. Diese Art des Springens musste so lange trainiert werden, bis alle Angehörigen der Schwarzen Division es beherrschten. Jeder musste ersetzbar sein, egal, wo und wie der Einsatz erfolgte. Die Zeit drängte.
Nur einer hatte andere Pläne. Er saà in der Nähe der riesigen Ladeluke am Heck der Maschine und beobachtete die Mitfliegenden. Einige hielten die Augen geschlossen oder starrten auf irgendeinen imaginären Punkt an der Bordwand, manche unterhielten sich. So gut es eben ging, bei diesem Höllenlärm. Hin und wieder schaute einer durchs Bordfenster. Keiner wusste, wo sie sich befanden. Sie waren jetzt exakt 67 Minuten in der Luft. Lange konnte es bis zum Absprung nicht mehr dauern. Sie sollten in drei Zwanziger-Gruppen Freifallformationen bilden, die, nicht sehr weit voneinander entfernt, mit ungefähr 180 Stundenkilometern der Erde entgegenrasten und in 300 Metern über Grund ihre Schirme öffneten. Nach der Landung sollten die Fallschirme geborgen und versteckt werden. Alle Springer waren mit modernsten GPS-Navigationsempfängern ausgerüstet und sollten sich mit dieser Hilfe in der Gruppe geschlossen an einem 200 Kilometer entfernten Ort treffen. Dazu hatten sie genau drei Tage Zeit. Die Karten, die sie dabei hatten, durften erst nach der Landung hervorgeholt werden. Dann erst sahen sie, in welchem Teil des Landes sie sich diesmal befanden.
Der Mann am Heck der Maschine war jetzt etwas über zwei Monate in der Schwarzen Division. Offiziell war er tot. Gestorben am 24. Juli 1999 bei einem Verkehrsunfall. Sein Deckname war âºStüppâ¹, was eine andere Bezeichnung für Werwolf war. Er wählte den Namen von einem Wesen, das nicht existent war. Der Stüpp unterschied sich von einem Werwolf, indem er seine Opfer nicht zerfleischte, sondern ihnen auflauerte, auf ihren Rücken sprang und nicht mehr abzuschütteln war. Nach der Ãberlieferung waren die betroffenen Menschen ihr ganzes, restliches Leben von diesem Ereignis gekennzeichnet.
Angefangen hatte alles im Januar 1999. In einer Raststätte, die er kurz zuvor wegen der vorgeschriebenen Stillstandszeiten angefahren hatte, als er mit seinem
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