Infernal: Thriller (German Edition)
Dieser Mann hat mich noch nie zuvor im Leben gesehen.
»Jawohl, Sir«, sage ich laut in dem Versuch, die beiden FBI-Leute aus ihrer Trance zu reißen.
Wheaton wendet sich wieder zu mir. »Und was wollen Sie fotografieren?«
»Ihre Arbeiten.«
»Nun, nur zu. Das heißt, solange Ihre Bilder ausschließlich im Besitz des FBI bleiben. Ich möchte nicht, dass Reporter dieses Bild sehen, bevor es fertig gestellt ist.«
»Absolut«, sagt Kaiser, der endlich wieder zu sich gekommen zu sein scheint. »Wir werden die Aufnahmen strikt vertraulich behandeln.«
Kaiser wirft mir einen Blick zu, und ich erkenne augenblicklich, dass er meine Einschätzung Wheatons teilt. Der große Mann aus Vermont hat keine Ahnung, wer ich bin. Nach der anfänglichen Verwirrung wird mir nun bewusst, wie heiß es in Wheatons Studio ist. Kaiser hat seinen Mantel ausgezogen und ein abstraktes pointillistisches Bild von Schweiß auf seinem Hemdvorderteil enthüllt, doch Lenz hat seine Jacke weiterhin an, wahrscheinlich, um eine verräterische Wölbung oder frei liegende Kabel zu verbergen. Mit der gleichen Mamiya, die ich bei de Becque benutzt habe, mache ich ein paar Blitzaufnahmen von verschiedenen Paneelen des Gemäldes, doch es ist alles nur Schau. Viele von Wheatons Bildern werden beschlagnahmt, sobald diese Vernehmung endet, was sie eigentlich bereits getan hat. Ich fühle mich schuldig, weil ich Teil dieser Scharade bin und weiß, wie sehr die darauf folgenden Aktionen den Künstler beeinträchtigen und erzürnen werden, der offensichtlich bereit ist, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um uns zu helfen.
Während ich fotografiere, zieht Wheaton eine Leiter zu dem unvollendeten Paneel und klettert mühsam hinauf, dann beginnt er in etwas mehr als zwei Metern Höhe mit kleinen Strichen zu malen. Einige Male im Verlauf meiner Karriere hatte ich das Gefühl, Zeugin wahrer Größe zu werden. Genau dieses Gefühl habe ich auch jetzt. Ich verspüre den drangvollen Wunsch, Wheaton abzulichten, den Künstler bei der Arbeit zu dokumentieren. Nach einigen Sekunden des Zögerns mache ich ein paar Bilder von ihm, und er scheint keine Einwände zu haben. Ich habe noch einen Reservefilm in meiner Gürteltasche, und nach weniger als einer Minute bin ich damit beschäftigt, die Kamera nachzuladen, und voll in meinem Beruf aufgegangen. Wheaton hat eine Gabe, die viele großartige Menschen besitzen: die Fähigkeit, mit dem weiterzumachen, was er gerade tut, als sei keine Kamera zugegen. Noch während ich fotografiere, weiß ich, dass die Abzüge außergewöhnlich sein werden, und in einer stillen Ecke meines Gehirns hoffe ich, dass das FBI nicht darauf bestehen wird, sämtliche Negative in seinem Besitz zu behalten.
Lenz und Kaiser sind auf die andere Seite des Raums gegangen, um sich leise zu beraten, und ich spüre, dass sie bereit sind, zu Leon Gaines überzugehen. Kaiser bemerkt meinen Blick und nickt mir zu, meine Sachen einzupacken. Im Überwachungswagen habe ich noch mehr Filme, also knipse ich die Rolle voll, bevor ich zur Leiter gehe und Wheaton meine Hand anbiete. Normalerweise schüttele ich ja niemandem die Hand, doch in diesem Fall habe ich das Gefühl, als wäre eine Geste des Dankes für seine Großzügigkeit angebracht. Er lässt seinen Pinsel und seine Palette oben auf der Leiter zurück und steigt herab, um mir behutsam die Hand zu schütteln. Selbst durch die Baumwollhandschuhe hindurch spüre ich, dass seine Hand so weich ist wie die einer Frau. Seine Krankheit hält ihn offensichtlich von jeder anderen Arbeit außer Malen ab.
»Danke sehr, dass Sie es mir so einfach gemacht haben«, sage ich.
Der Künstler lächelt scheu. »Es fällt leicht, die Aufmerksamkeit einer schönen Frau zu tolerieren.«
»Danke sehr.«
Er blickt auf, und seine Augen hinter der Gleitsichtbrille sind ganz schmal. »Haben Sie schon immer beim FBI gearbeitet?«
»Nein. Früher war ich Fotojournalistin.« Es ist keine richtige Lüge.
Er mustert mich ein paar Sekunden länger, dann lächelt er erneut. »Bitte kommen Sie irgendwann wieder vorbei und erzählen Sie mir mehr darüber. Fotografie interessiert mich sehr. Ich habe kaum noch Besucher, hauptsächlich wegen selbst auferlegter Beschränkungen, fürchte ich.«
»Ich versuche es.«
»Mr Wheaton«, sagt Kaiser, »ich möchte Ihnen sagen, dass wir Ihre Mithilfe zu schätzen wissen. Wahrscheinlich wird die Polizei von New Orleans ebenfalls mit Ihnen reden wollen. Mein Rat lautet, mit der Polizei zu
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