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Infernal: Thriller (German Edition)

Infernal: Thriller (German Edition)

Titel: Infernal: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Iles
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lange weiterarbeiten, wie ich die Kraft dazu habe. Wenn ich sterbe, wird meine Arbeit weiterleben. Das ist mehr Befriedigung, als die meisten Menschen jemals erfahren.«
    Wheatons Worte sind von messerscharfer Wahrheit, und sie verlangen nach respektvollem Schweigen, genau wie ein Gebet.
    »Mach endlich!«, murmelt Baxter und trommelt nervös auf die Konsole vor sich. »Hol sie rein!«
    Doch Lenz weiß offensichtlich nicht, wann er aufhören muss. »Ich würde gerne wissen ...«
    »Bitte entschuldigen Sie, Mr Wheaton«, unterbricht ihn Kaiser in scharfem Tonfall. »Aber unsere Fotografin hätte eigentlich schon vor zehn Minuten hier sein müssen. Wenn ...«
    »Los!« , sagt Baxter zu mir und schlägt mir aufs Knie.
    Ich stoße die Hecktür des Lieferwagens auf, und Sekunden später stöckele ich über den Bürgersteig auf die Newcomb Art Gallery zu, während ich in den ungewohnten Pumps um mein Gleichgewicht kämpfe und das Herz mir bis zum Hals hämmert.
    Der Geruch von Ölfarbe weht mir entgegen, als ich durch die Tür gehe. Er wird von Meter zu Meter stärker, je weiter ich in Richtung der Hauptgalerie vordringe, wobei ich mich von der Erinnerung eines Planes leiten lasse, den Baxter mir im Überwachungswagen gezeigt hat. Der Eingang ist mit Tiffany-Glas verziert, das sich zu beiden Seiten einer breiten Tür erstreckt. Als ich hindurchgehe, finde ich mich vor einer runden weißen Wand wieder. Dann erkenne ich die hölzernen Rahmen. Die Wand ist die Rückseite von Wheatons zimmergroßem Leinwandkreis.
    Zu meiner Rechten befindet sich eine Lücke in der runden Wand. Ich gehe hindurch und konzentriere mich auf Baxters Instruktionen, distanziert und professionell aufzutreten – doch beim ersten Anblick von Wheatons Gemälde bleibe ich wie angewurzelt stehen.
    Der Kreis aus verbundenen Leinwänden ist fast zweieinhalb Meter hoch und misst wenigstens zehn im Durchmesser. Allein der Maßstab erweckt Ehrfurcht. Doch es ist das Bild, das mir den Atem raubt. Ich habe das Gefühl, als wäre ich mitten in J. R. R. Tolkiens Düsterwald, einer schattigen Welt, in der sich Wurzeln um Füße winden und knorrige Äste um den Hals schlingen, wo dichte Ranken und Baumfallen Dinge verbergen, die wir am liebsten niemals sehen würden. Durch diese dunkle Welt windet sich ein schmaler schwarzer Wasserlauf, und gelegentlich schäumt weiße Gischt über Felsen oder herabgestürzte Äste. Die Szene schockiert mich, weil ich etwas Abstraktes erwartet habe, etwas wie die anderen späteren Arbeiten von Wheaton. Das also hat Lenz gemeint, als er von der Rückkehr zu Wheatons früherer Inspiration gesprochen hat. Ich habe das Gefühl, als könnte ich förmlich in das Gemälde hineingreifen, einen Zweig nehmen und ihn mit lautem Knacken zerbrechen. Wäre der Geruch nach Ölfarbe und Leinsamenöl nicht so stark, würde ich glauben, verrottende Blätter zu riechen. Lediglich eines der gerundeten Paneele ist noch unvollendet, und vor diesem Paneel steht Wheaton persönlich mit einem Pinsel und einer Palette in den behandschuhten Händen.
    Die Körpergröße des berühmten Künstlers ist der zweite Schock. Das Porträtfoto, das ich gestern Nacht gesehen habe, hat in mir den Eindruck eines schmalen, kleinen Mannes erweckt, doch das beweist lediglich einmal mehr, wie trügerisch Fotografien sein können. Wheaton ist nur ein paar Zentimeter kleiner als Kaiser mit seinen knapp hundertneunzig Zentimetern. Er hat drahtige Arme und große Hände mit langen Fingern, und seine Schultern sind vom Alter nur leicht gebeugt. Sein Gesicht ist so ausdrucksstark, dass das Drahtgestell seiner Gleitsichtbrille – ich kann von meiner Position aus den Rand in den Gläsern erkennen – eher wie eine Verzierung wirkt und nicht wie eine funktionale Sehhilfe. Trotz seiner achtundfünfzig Jahre hat er einen vollen Schopf silbergrauer Haare, die er nach hinten gekämmt trägt und die bis zu den Schultern reichen. Seine Haut ist bemerkenswert glatt. Er wirkt wie ein Mann, der an einem Ort von außergewöhnlichem Frieden angekommen ist, obwohl das nach dem Wenigen, das ich von seinem Leben weiß, ein Trugschluss sein muss.
    »Das ist Ihre Fotografin?«, fragt er und lächelt mir entgegen.
    Sein Lächeln verschwindet, als er sich erneut Lenz zuwendet, der genau wie Kaiser die einleitende Frage des Künstlers gar nicht gehört hat, so sehr ist er damit beschäftigt, ein verräterisches Zeichen auf Wheatons Gesicht zu entdecken. Ich hätte ihnen die Mühe ersparen können.

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