Infernal: Thriller (German Edition)
in der Newcomb Gallery wäre Ihr Meisterwerk?«
Er lacht leise auf, als würde er sich über einen Witz amüsieren, den ich nicht verstehe. »Das war sein Meisterwerk.«
Mein Verstand ist schlagartig bei den primitiven, kindlichen Fingerbildern auf dem Boden unter der Plane in der Galerie. Dann trägt mich Wheaton über den bewusstlos daliegenden FBI-Agenten. Ich bin nicht der Mann, der das gemalt hat ...
»Es ist mein letztes«, sagt er in diesem Augenblick.
»Das letzte was?«
Er wirft mir einen durchtriebenen Blick zu, den ich mir bei dem Roger Wheaton, den ich vor einigen Tagen kennen gelernt habe, niemals hätte vorstellen können. »Sie wissen es ganz genau«, antwortet er mit einer Singsang-Stimme.
»Die letzte ›Schlafende Frau‹?«
»Ja. Aber diese hier wird anders.«
»Weil Sie darin vorkommen?«
»Unter anderem.«
»Sie tragen gar nicht Ihre Brille«, denke ich laut.
»Das war nicht meine Brille.«
»Wessen Brille war es denn?«
Er betrachtet mich mit einem Blick, den ich als Wie kann man so blöd fragen interpretiere. Dann sagt er: »Sie gehört Roger. Dem Schwächling. Der Schwuchtel.«
Mein Magen dreht einen langsamen Salto. Herr im Himmel. Zwei Profiler vom FBI und ein Psychiater sitzen am Tisch und zerbrechen sich die Köpfe, und die Fotografin behält am Ende Recht.
MPD, hat Dr. Lenz es genannt. Multiple Persönlichkeitsstörung. Bruchstücke der oberlehrerhaften Rede des Psychiaters fallen mir ein. So funktioniert MPD nicht ... das ist Dr. Jekyll und Mr Hide. Willkommen in meinem ganz persönlichen Albtraum, Dr. Lenz. Was hat er sonst noch gesagt? Schlimme sexuelle oder körperliche Misshandlung im Kindesalter. Ausschließlich ...
»Wenn Sie nicht mehr Roger Wheaton sind«, frage ich vorsichtig, »wer sind Sie dann?«
»Ich habe keinen Namen.«
»Sie müssen sich doch irgendwie nennen?«
Ein schräges Lächeln. »Als Junge habe ich ›Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer‹ gelesen. Ich mochte Captain Nemo. Nemo bedeutet ›Niemand‹. Wussten Sie das?«
»Ja.«
»Er ist über die Ozeane der Welt gefahren und wollte die Menschheit von ihren selbstzerstörerischen Zwangsvorstellungen heilen. Ich habe einige dieser Ozeane befahren. Ich fand die Wahrheit allerdings sehr viel früher heraus als Nemo. Die Menschheit ist nicht zu heilen. Die Menschheit will nicht geheilt werden. Nur ein Kind kann rein und unschuldig sein, und selbst dann noch kommt die Welt mit all ihrer Korruption, ihrer Falschheit, ihrem Schmutz und ihrer Gewalt über es.« Wheaton beißt sich in einer merkwürdig kindlichen Geste auf die Unterlippe.
»Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen.«
»Ach nein? Erinnern Sie sich an die Zeit, als Sie klein waren? Als Sie noch an Märchen geglaubt haben? Und an den Schock, als Sie festgestellt haben, dass jedes einzelne davon der Realität nicht standhält? Dass es kein Aschenputtel gibt und keinen Nikolaus? Dass Ihr Vater nicht vollkommen war? Dass er nicht einmal ein guter Vater war? Dass er Dinge für sich allein wollte? Ihre Mutter im Haus beispielsweise? Und er wollte ... andere Dinge. Es hat Ihnen sehr wehgetan.«
Ausschließlich verursacht durch schlimmen Missbrauch in der Kindheit. Ausschließlich ...
»Es gab keinen Prinzen, der nur darauf gewartet hat, Sie zu seinem Schloss davonzutragen, nicht wahr?« Wheatons funkelnde Augen haften auf der Leinwand. »All die kleinen Anwärter wollten das Gleiche, nicht wahr? Sie waren ihnen völlig gleichgültig. Das kleine, zerbrechliche Wesen, das Sie im Innern Ihres Herzens sind. Sie wollten sich in Ihnen verströmen, alles nur für diesen einen Moment, Sie benutzen und dann ignorieren, wegwerfen wie ein Stück Abfall.«
Wheaton redet sich allmählich in Rage, und ich will nicht, dass er noch instabiler wird, als er ohnehin schon ist. Zeit, das Thema zu wechseln. »Jetzt ist es wirklich heiß.«
Er verzieht ärgerlich das Gesicht, doch nach einem Augenblick kommt er herbei und dreht den Wasserhahn zu.
»Wie bin ich hierher gekommen?«, frage ich, als er wieder zu seiner Leinwand geht. In dem tiefen Ausschnitt zwischen seinen Rückenmuskeln schimmern die Knochen seiner Wirbelsäule durch wie eine Leiter.
»Sie erinnern sich nicht?«, fragt er und hebt erneut den Pinsel. »Sie waren bei Bewusstsein. Überlegen Sie, während ich Ihr Auge fertig male. Und versuchen Sie stillzuhalten.«
Ich erinnere mich tatsächlich an einige Dinge. Lichter. Wogen von Übelkeit. Grauer Himmel, Glas, eine Kette
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