Infernal: Thriller (German Edition)
wirklich passiert war, doch es war sinnlos. Die Wahrheit über Bobbys Verhalten zu akzeptieren hätte seinen Verrat vollständig gemacht, und das wäre unerträglich gewesen. Zwei Monate darauf wurde meine Beziehung zu David Gresham publik, und ich verließ New Orleans.
Langsam verblasste die ursprüngliche Verbitterung in mir. Bobby Evans verschwand zusammen mit dem restlichen Drum und Dran der High School in der Vergangenheit. (Heute arbeitet er als Immobilienmakler in Oxford.) Ich unterstützte Jane finanziell weiter bis zum ersten Jahr am College, als sie eine andere Geldquelle fand. Wir sahen uns erst bei ihrer Hochzeit wieder, obwohl ich nicht als Ehrenjungfrau eingeladen worden war (dieses Amt übernahm Marc Lacours Schwester). Doch in den zwanzig Jahren seit damals machten wir langsame, aber beharrliche Annäherungsversuche, die schließlich den Graben überwanden, der uns einst trennte. In den drei Jahren vor ihrem Verschwinden waren wir uns – mehr dank Janes Bemühungen als meiner – näher als irgendwann zuvor in unserem Leben, und ich gelangte zu dem Glauben, dass das Band zwischen uns, das sich angesichts des Verlustes des Vaters und der Unfähigkeit der Mutter gebildet hatte, stärker war als der Streit um einen Mann. Und vielleicht war es das auch. Vielleicht hatte sie Marc in den frühen Tagen ihrer Ehe von meinem Betrug erzählt.
Zurückblickend fällt es mir nicht schwer, Janes gesamtes Leben als eine Flucht vor der Familie zu erkennen, in die das Schicksal sie geboren hatte. All ihre Bemühungen, sich zu befreien, dazuzugehören, beizutreten – die Cheerleader, Schulclubs, Kirchengruppen, Studentinnenvereinigungen –, alles schien Bestandteil ihrer verzweifelten Anstrengungen, eine Ersatzfamilie zu finden, ein Teil der Brady-Bande zu sein, deren perfektes Leben im Fernsehen unserer Jugend die Bildschirme beherrschte und der unser Zuhause nicht annähernd ähnelte. In diesem Zusammenhang war meine Affäre mit Bobby Evans kein bloßer Betrug, sondern ein Anschlag auf Janes Illusionen von gesellschaftlichem Aufstieg. Und da unsere Illusionen immer unser kostbarster Besitz sind – wie konnte sie mir da vergeben?
Doch die finale, grausame Ironie ihres Lebens war noch viel schlimmer. Nachdem sie ihre unmöglich erscheinende Suche erfolgreich abgeschlossen hatte, nachdem sie einen reichen, gut aussehenden Ehemann, ein richtiges Herrenhaus und zwei wunderbare Kinder bekommen hatte, all die Symbole von Vornehmheit und Sicherheit, wurde sie aus dem Zentrum ihrer Träume gerissen – von irgendeiner gequälten Seele, die ohne Zweifel in einer noch weniger funktionierenden Familie als der unsrigen aufgewachsen war. Falls Jane wirklich tot ist, kann ich nicht einmal annähernd nachvollziehen, was ihre letzten Gedanken waren. Falls sie lebt ...
»Schlafen Sie?«
Ich schrecke blinzelnd aus meinen Gedanken hoch und blicke über den schmalen Mittelgang hinweg zu John Kaiser, der mich besorgt ansieht. Er trägt eine lange navyblaue Hose, ein Polohemd und eine braune Wildlederjacke, die seine Schultern perfekt betont. Ich habe mich selbst ebenfalls ein wenig für diesen Trip zurechtgemacht, mit einer maßgeschneiderten schwarzen Seidenhose und dazu passender Jacke und einer Leinenbluse darunter, die weit genug ausgeschnitten ist, um den Ansatz meines Dekolletees zu zeigen. Ein spleeniger alter Franzose reagiert vielleicht positiv auf diesen Anblick.
»Hey«, sagt Kaiser, »sind Sie in Trance oder was?«
»Nein. Nur in Gedanken.«
»Worüber haben Sie nachgedacht?«
»Wir kennen uns nicht gut genug, als dass Sie ein Recht auf diese Frage hätten.«
»Stimmt. Sorry.« Er lächelt angespannt.
Ich richte mich in meinem Sitz auf. »Sie haben wahrscheinlich einen perfekten Plan für dieses Treffen? Eine Strategie?«
»Nichts dergleichen. Dr. Lenz hätte einen gehabt. Ich gehe den größten Teil der Zeit nach Gefühl vor. Wir lassen es auf uns zukommen.«
»Aber Sie haben doch bestimmt eine Vorstellung, was de Becque von mir will?«
»Entweder steckt er von Anfang an hinter dieser Geschichte – hinter jeder einzelnen Entführung –, oder es ist ein Ablenkungsmanöver. Das Spiel eines versponnenen Reichen. Falls es ein Spiel ist, weiß er bestimmt, dass Sie die Doppelgängerin einer der ›Schlafenden Frauen‹ sind. Vielleicht hat de Becque Janes Bild gesehen, als Wingate es zum Verkauf anbot. Als er erfuhr, was in Hongkong geschehen ist – eine Doppelgängerin der ›Schlafenden Frau‹ taucht
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