Infernal: Thriller (German Edition)
leer ist wie ein unbelichteter Film. Das Bild im Ausstellungsraum des Museums ist nicht der Leichnam Janes, aber es ist vielleicht die heißeste Spur, die es jemals geben wird. Es ist ein Ausgangspunkt. Mit dieser Erkenntnis kommt eine weitere: Es gibt noch mehr Gemälde wie das von Jane. Nach den Worten des Audio-Führers insgesamt neunzehn. Neunzehn nackte Frauen, die schlafend oder tot porträtiert wurden. Soweit ich weiß, sind aus New Orleans nur elf verschwunden. Wer sind die anderen acht? Oder gibt es nur elf Frauen und erscheinen einige von ihnen auf mehr als einem Bild? Und was in Gottes Namen machen diese Bilder in Hongkong, auf der anderen Seite der Welt?
Stopp! , ruft eine Stimme in meinem Kopf. Die Stimme meines Vaters. Vergiss diese Fragen! Denk lieber an das, was du jetzt tun solltest!
Der Audio-Führer sagt, dass die Gemälde über einen New Yorker Händler namens Christopher Sowieso verkauft werden. Windham? Winwood? Win gate . Um ganz sicherzugehen, ziehe ich den Walkman von meinem Gürtel und ramme ihn in meine prall gefüllte Gürteltasche. Die Bewegung aktiviert eine Vitrinenbeleuchtung, und meine Augen schmerzen von der raschen Kontraktion meiner Pupillen. Während ich in den Schatten zurückgleite, wird mir das Offensichtliche bewusst. Wenn dieser Christopher Wingate in New York lebt, dann sind dort auch die Antworten zu finden. Nicht hier, nicht in diesem Museum. Im Büro des Kurators würde ich höchstens misstrauische Neugier erwecken. Ich brauche keine Polizei, ganz besonders keine kommunistische chinesische Polizei. Ich brauche das FBI. Die Investigative Support Unit. Doch das FBI ist zehntausend Meilen entfernt. Was würde die jungen Genies der forensischen Wissenschaften an diesem Museum interessieren? Die Gemälde natürlich. Die Gemälde kann ich nicht mitnehmen. Doch es gibt eine mögliche Alternative. In meiner Gürteltasche trage ich eine einfache Kleinbildkamera. Sie ist das fotojournalistische Äquivalent der Wadenhalfterpistole eines Cops – das Werkzeug, ohne das es einfach nicht geht. An dem einen Tag, an dem du sicher bist, keine Kamera zu benötigen, ereignet sich direkt vor deinen Augen eine weltbewegende Tragödie.
Beweg dich! , befiehlt die Stimme meines Vaters. Solange die Verwirrung anhält.
Den Weg zurück zum Ausstellungsraum habe ich rasch gefunden; ich folge lediglich dem Geräusch aufgeregter Unterhaltungen, die durch die leeren Räume hallen. Die Männer laufen immer noch durcheinander, und sie reden zweifellos über mich, die »Schlafende Frau«, die nicht schläft und ganz bestimmt nicht tot ist. Ohne jede Furcht nähere ich mich ihnen. Irgendwo zwischen dem Dokumentensaal und dieser Ausstellung mit dem Titel »Frauen in Ruhe« habe ich meine Schwester in ein dunkles Loch meiner Erinnerung geschoben und bin zu der Person geworden, die auf vier Kontinenten über Kriege berichtet hat – meines Vaters Tochter.
Bei meinem unerwarteten Wiederauftauchen drängen sich die Chinesen in dichten Gruppen zusammen. Ein Museumswächter befragt zwei von ihnen in dem Bemühen, herauszufinden, was geschehen ist. Dreist gehe ich an ihnen vorüber und schieße zwei Fotos von der Frau in der Badewanne. Der Blitz der kleinen Canon verursacht einen Schwall wütenden Chinesischs. Zielstrebig bewege ich mich durch den Raum und knipse zwei weitere Gemälde, bevor der Museumswächter mir in den Arm fällt. Ich wende mich ihm zu und nicke, als hätte ich verstanden, dann löse ich mich und gehe zu dem Bild von Jane. Ich schaffe ein weiteres Foto, bevor er mit seiner Pfeife um Hilfe ruft und mir erneut in den Arm fällt, diesmal mit beiden Händen. Manchmal kann man sich aus ähnlichen Situationen mit irgendeinem Sch ... herauswinden. Dies ist keine davon. Falls ich immer noch hier stehe, wenn irgendein Verantwortlicher auftaucht, schaffe ich es niemals mitsamt meinem Film aus dem Museum. Ich versetze dem Wächter einen wohl gezielten Stoß mit dem Knie und renne zum zweiten Mal los, als sei der Teufel hinter mir her.
Erneut schrillt die Polizeipfeife, auch wenn es diesmal etwas weinerlicher klingt. Ich bremse rutschend auf dem gewachsten Boden, wende mich einer Feuertür zu und springe nach draußen, während hinter mir tausendfacher Alarm losgeht. Zum ersten Mal bin ich froh über die wimmelnden Menschenmassen von Hongkong; selbst eine Langnasenfrau kann innerhalb weniger Sekunden untertauchen. Dreihundert Meter weiter halte ich ein Taxi an, lasse mich aber nicht zur Star Ferry
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