Infernal: Thriller (German Edition)
wütend, weil ihre Fantasien über die »Schlafenden Frauen« ein Schwindel zu sein scheinen. Doch ich weiß Dinge, die sie nicht wissen. Ich sehe meine Schwester aus dem Haus in der St. Charles Avenue kommen, und wie Feuchtigkeit auf ihrer Haut kondensiert, noch bevor sie anfängt zu laufen. Drei Meilen sind ihr Ziel. Irgendwo im dschungelartigen Garden District setzt sie einen Fuß falsch und fällt in das gleiche Loch, in das 1972 mein Vater gefallen ist.
Und nun starrt sie mich aus leeren Augen an, von einer Leinwand herab, die so tief scheint wie ein Fenster zur Hölle. Nachdem ich Janes Tod innerlich akzeptiert, um sie getrauert und sie in meinem Herzen begraben habe, löst diese unerwartete Wiederauferstehung einen Sturm von Emotionen in mir aus. Doch irgendwo im chemischen Chaos meines Gehirns, im dunklen Auge des Hurrikans, funktioniert mein rationaler Verstand unbeirrt weiter. Wer auch immer dieses Bild gemalt hat, er muss meine Schwester gesehen haben, nachdem sie aus dem Garden District verschwand. Er muss wissen, was niemand sonst wissen kann: die Geschichte von Janes letzten Stunden, oder Minuten, oder Sekunden. Er hat ihre letzten Worte gehört. Er ... Er? Wieso gehe ich davon aus, dass der unbekannte Künstler ein Mann ist?
Weil es mit fast hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit tatsächlich ein Mann ist. Ich habe kein Verständnis für die Naomi Wolfs dieser Welt, doch statistische Tatsachen lassen sich nun einmal nicht leugnen. Es sind allein Männer, die diese obszönen Verbrechen begehen: Vergewaltigung, Mord an Fremden und das Pièce de Resistance , Serienmord. Es ist eine ausschließlich männliche Pathologie, die dahinter steckt: die Jagd, das Planen, die obsessiv gehegte Wut, die sich in komplexen Gewaltritualen entlädt. Ein Mann schwebt hinter diesen seltsamen Gemälden, wie ein Geist, und er besitzt Kenntnisse, die ich dringend brauche. Er allein kann mir geben, was ich im letzten Jahr entbehrt habe: Frieden.
Als ich in die gemalten Augen meiner Zwillingsschwester starre, keimt wilde Hoffnung in mir auf. Jane sieht tot aus auf dem Bild. Und der Audio-Führer des Museums äußert die Vermutung, dass dies für alle Frauen der Serie gilt. Doch trotz meiner Vorahnung in Sarajewo muss es eine Chance geben, dass Jane lediglich bewusstlos war, als ihr Bild gemalt wurde. Vielleicht stand sie unter Drogen, oder sie hat sich tot gestellt, wie wir es als Kinder getan haben. Wie lange dauert es, ein Bild wie dieses zu malen? Ein paar Stunden? Einen Tag? Eine Woche?
Ein besonders lauter Ausbruch von chinesischem Geschnatter durchbricht den Bann, in den mich das Bild gezogen hat. Ich werde der Tränen gewahr, die auf meinen Wangen kalt werden, und der fremden Hand auf meiner Schulter. Die Hand gehört einem der Bastarde, die hergekommen sind, um sich am Anblick nackter toter Frauen zu ergötzen. Ich habe das wilde Bedürfnis, die Leinwand herunterzureißen, um die Nacktheit und Blöße meiner Schwester vor diesen neugierigen Blicken zu schützen. Doch wenn ich ein Gemälde zerstöre, das Millionen von Dollar wert ist, lande ich im Gewahrsam der chinesischen Polizei – ein äußerst unangenehmer Umstand, bestenfalls.
Stattdessen renne ich los.
Ich renne, als wäre der Teufel hinter mir her, und halte erst an, als ich einen düsteren Raum erreiche, der mit alten, unter Glas gesicherten Dokumenten angefüllt ist. Es ist antike chinesische Poesie, handgemalt auf Papier, das so brüchig geworden ist wie die Flügel von Motten. Das einzige Licht kommt aus den Vitrinen selbst, und sie leuchten erst auf, wenn ich mich ihnen nähere. Meine Hände zittern, und als ich die Arme um meinen Leib schlinge, wird mir bewusst, dass mein restlicher Körper ebenfalls zittert. In der Dunkelheit sehe ich meine Mutter vor mir, wie sie sich in Oxford, Mississippi, langsam zu Tode trinkt. Ich sehe Janes Ehemann und ihre Kinder in New Orleans, wie sie sich nach Kräften bemühen, ohne Jane zu leben, auch wenn es ihnen alles andere als gut gelingt. Ich sehe die FBI-Agenten, die ich vor dreizehn Monaten kennen gelernt habe, ernste Männer mit guten Absichten und ohne die geringste Vorstellung, wie sie uns helfen könnten.
Als ich meine Laufbahn begann, habe ich Hunderte von Fotos an Verbrechensschauplätzen geschossen, doch mir war nie richtig bewusst, wie wichtig ein Leichnam für eine Morduntersuchung ist. Der Leichnam ist die Grundlage der gesamten Ermittlungen. Ohne Leichnam stehen die Ermittler vor einer Wand, die so
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