Inferno
eher später 70er-Punk. Die Buttons auf der Jacke bestätigten die Einschätzung. THE GERMS, THE STRANGLERS, ein Button mit dem ersten Albumcover von den Cure und noch einer von The Scream von Siouxie and the Banshees. In weißen, unregelmäßigen Buchstaben stand SIC F*cks! auf ihrem Shirt.
»Wow«, wiederholte das Mädchen. »Das ist ja super! Eine Neue!«
»Wie bitte?«
»Deine Klamotten sind großartig, wo hast du die her?«
»Ich …«, begann Cassie, doch weiter kam sie nicht.
»Und deine Haare sind der Wahnsinn! Ich würde alles machen, um an so eine Farbe ranzukommen. Wo hast du die her?«
»Ich …«, versuchte Cassie erneut.
»Wir haben dich noch nie gesehen. Wie lange bist du schon hier?«
»Einen Monat oder so.«
»Du musst dich erst eingewöhnen – das dauert ein bisschen.« Das Mädchen holte eine Kassette aus der Innentasche der Jacke. »Hier, die Kassette schenk ich dir. Geiles Zeug. Wir haben letztens in der Stadt ein paar von denen abgezockt.«
Widerstrebend nahm Cassie das Tape. Die Stadt? Sie muss Pulaski meinen, oder Charlottesville . »Äh, danke.« Auf dem schwarzen Cover stand in silbernen, stilisierten Buchstaben: ALDINOCH. »Nie gehört. Was ist das, Metal?«
»Das gefällt dir sicher. Und es ist das Einzige, was momentan in der Stadt so abgeht.« Das Mädchen wirkte temperamentvoll, fast überdreht. Ihre Hand schoss nach vorne. »Ach, sorry. Ich bin Via.«
Cassie schüttelte die Hand – sie fühlte sich heiß an. »Cassie«, wiederholte sie. »Und wo wohnst du?«
»Wir sind nur zu dritt, ich und Xeke und Hush.« Ihr Daumen wies rückwärts den Pfad hinauf. »In dem großen hässlichen Kasten da oben auf dem Hügel.«
Was! Cassie war perplex. »Du meinst doch nicht Blackwell Hall?«
»Genau. Gleich da oben. Auf dem Hügel.«
Das war vielleicht merkwürdig. »Du musst ein anderes Haus meinen. Ich wohne in Blackwell Hall.«
Via brachte das keineswegs aus der Fassung. »Hey, das ist doch cool. Du kannst bei uns unterschlüpfen.«
Hausbesetzer . Das wäre eine Erklärung, aber …
»Tagsüber bleiben wir immer in dem Oculus-Zimmer.«
Konnte das wahr sein? Das Haus war so riesig, dass sich vermutlich wirklich in einer abgelegenen Ecke Hausbesetzer verstecken konnten. Doch war es möglich, dass sie die ganze Zeit unentdeckt blieben?
»Es ist der stärkste Teil des Hauses«, fuhr Via fort. »Die Keller sind auch nicht übel, aber in dem Oculus-Zimmer hat Blackwell die ganzen Babys getötet.«
Cassie stand wie angewurzelt da. Was ist hier eigentlich los? Wovon spricht sie überhaupt?
»Du hast eine wirklich starke Aura«, erzählte Via fröhlich weiter. »Wusstest du das? Knallblau. Komm doch mit mir zum Bahnhof, dann kannst du die anderen kennen lernen. Wir fahren heute Nacht in die Stadt.«
Cassie hatte das Gefühl, ihr Gehirn würde vor Anstrengung beim Denken knirschen. Plötzlich fiel ihr Blick auf Vias Handgelenke – und auf die offenen Schlitze, die durch grobe schwarze Stiche zusammengehalten wurden. Sie sah getrocknetes Blut in der Wunde, als sei sie nicht verheilt.
Doch nun war Vias Blick ebenso verwundert.
Auf Cassies Handgelenk gerichtet.
»Das ist ja unmöglich«, flüsterte sie. Sie schnappte sich Cassies Handgelenk und betrachtete die ähnliche Wunde, ähnlich lediglich im Hinblick auf die darin ausgedrückte Absicht. Doch Cassies Narbe war …
»Verheilt«, murmelte Via. »Es ist verheilt.« Dann starrten ihre dunkel geschminkten Augen fassungslos in Cassies.
»O mein Gott«, sagte Via. »Du bist gar nicht tot, oder?«
Trotz der bizarren Situation musste Cassie laut loslachen. »Was soll das denn bitte schön heißen? Natürlich bin ich nicht tot.«
»Also, ich bin es jedenfalls!«, rief Via und rannte den Hügel hinunter.
KAPITEL DREI
I
Wahnvorstellungen. Halluzinationen.
Was sonst konnte es sein? Im Krankenhaus hatte man ihr gesagt, dass einige der Psycho-Pillen solche Nebeneffekte haben konnten. Sie hatte ziemlich abrupt aufgehört, sie zu nehmen; vielleicht führte das ebenfalls zu Halluzinationen.
Entweder das oder ich knalle einfach durch. Ich drehe ab.
Die Erinnerung an den Vorfall ließ sie nicht los, sie war so unangenehm wie die Schwüle des Tages. War sie im Wald eingeschlafen und hatte alles nur geträumt?
Nein. Es fühlte sich zu real an.
»Hey, Schatz!«, hatte ihr Vater aus dem geräumigen Wohnzimmer gerufen. »Ich habe mir langsam Sorgen gemacht.«
»Ich … hab mich auf dem Heimweg ein bisschen verlaufen«, war ihre
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