Inferno
Glockenturm, der mindestens fünfzig Stockwerke emporragte. Doch das Zifferblatt hatte keine Zeiger.
Fröhlich meinte Xeke: »Uhrenvergleich bitte!«
Erst da bemerkte Cassie die nächste Absonderlichkeit: Via, Xeke und Hush trugen alle drei Armbanduhren – doch alle waren genau wie die Kirchturmuhr: ohne Zeiger.
»Uhren ohne Zeiger?«, fragte sie verwirrt.
»Das ist eines der ersten Öffentlichen Gesetze. Du musst eine Uhr tragen, die keine Zeit anzeigt, und jedes Stadtviertel hat einen Uhrenturm wie den hier. Damit wir nie vergessen, dass wir für immer hier bleiben müssen.«
»Zeit ist illegal in der Hölle«, fügte Xeke hinzu. »Es ist wirklich unmöglich, ein Gefühl für Zeit zu behalten. Es ist immer Nacht, und der Mond«, er zeigte auf den karmesinroten Himmel, an dem der schwarze Sichelmond hing, »ist immer in derselben Phase. Sieh dir deine eigene Uhr an.«
Cassie warf einen Blick auf ihre winzige Timex. Sie tickte nicht mehr, die Zeiger waren ein paar Minuten nach Mitternacht stehen geblieben, genau als sie den Totenpass überquert hatten.
Zeit existiert hier nicht.
Cassies Faszination wuchs mit jeder neuen Einzelheit, die sie erfuhr. Schließlich brachte Xeke sie alle zu einem breiten Sandsteinhaus. NEUANKÖMMLINGS-TREFF stand quer auf einem Schild. Ein weiteres Schild im Haus verhieß WILLKOMMEN IN DER POGROM-PARK-GALERIE! LERNEN SIE
IHRE STADT KENNEN UND LIEBEN! Der lange, leere Raum mit den glänzenden Fototapeten erinnerte Cassie an eine Touristeninformation, in der die heimischen Sehenswürdigkeiten angepriesen werden. Eins nach dem anderen betrachtete sie die Fotos der wichtigsten Wahrzeichen der Hölle:
Die Industriezone mit ihren dreißig Meter hohen Wänden aus Eisenträgern. In diesem gewaltigen Komplex lagen das zentrale Elektrizitätswerk der Stadt, die Gießerei und der Schlackehochofen, die Fleischprozessoren und die Knochenmühlwerke. Ein Foto zeigte tausende bettelarmer Arbeiter, die Fleisch schnitten. Endlose Fließbänder transportierten die Stücke in die Verwertungsanlagen, um sie dort weiter zu Nahrung zu verarbeiten; andere Fließbänder brachten die Knochen in die Mühlwerke, um daraus Ziegelsteine und Zement herzustellen. Im Treibstoffdepot transportierten Trichter auf Rädern tonnenweise große Brocken rohen Schwefel, der dann von gebeugten Kulis von Hand in kleinere Stücke gehackt wurde – der unerschöpfliche Energievorrat der Stadt.
Die Gilles-de-Rais-Universität erstreckte sich über etliche Hektar und wirkte in ihrem Grundriss beinahe wie ein Campus. Hier unterrichteten die größten Hexer im ganzen Land ihre Schüler in den schwärzesten Künsten: Wahrsagen, psychische Folter, räumliche Transposition und das Neueste auf dem Gebiet der körperlichen Misshandlung.
Die Rockefeller-Münzanstalt versorgte die Stadt mit allen erdenklichen Währungen: Messing- und Blechmünzen mit den Abbildern sämtlicher Anti-Päpste sowie Höllendollars aller Art, gedruckt auf Dämonenleder.
Stolz und vornehm lag die Osiris-Höhe da, die Wohngegend für die gehobene Hierarchenschicht, die in alle Ewigkeit privilegiert in luxuriösen Hochhäusern lebten. Eine typische Suite enthielt die allerneusten Annehmlichkeiten: Hurenkäfige, Schädelvitrinen, Eiserne Jungfrauen und praktische kleine Krematorien für den Privatgebrauch. Auch Fernsehen gab es, das aber nicht von Elektrizität betrieben wurde, sondern von psychischen Theta-Wellen, und in dem die allerbesten Folterkanäle liefen.
Der Boniface Square versorgte ganze Straßenzüge mit Freizeitserviceleistungen. Vom edelsten, auf feinste dämonische Küche spezialisierten Restaurant bis hin zum einfachsten Straßenverkäufer, der einen Wagen mit auf offener Flamme gegrillten Fleischspießen vor sich her schob. Von feudalen Nachtclubs bis hin zu winzigen, primitiven Kneipen. Von Stripschuppen, Bordellen und Peepshow-Salons bis hin zum prunkvollen Friedrich der Große Opernhaus konnte man jegliche Art von abgründiger Unterhaltung am Platz finden.
Ein Gebäude, das den Namen von J. Edgar Hoover trug, gab es sowohl in der Welt der Lebenden als auch in Luzifers; hier allerdings waren in dem gewaltigen gotischen Bau das Zentralgefängnis für eine Million Insassen, die Drogenbeschaffungsagentur, die Kommandantur aller Manter-Divisionen (geleitet von einem eloquenten Herrn namens U.S. Grant), das Tamerlan-Notfall-Bataillon und natürlich die offizielle Polizeitruppe des Satans untergebracht – das Constablerbüro.
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