Inferno
diese Grenze stolz den ›Rand der Zivilisation‹ genannt.
An dem knapp zweihundertachtzig Meter langen Uferstreifen, wo die Piazza San Marco auf das Meer traf, lagen mehr als hundert schwarze Gondeln und hüpften vor den weißen Marmorgebäuden auf und ab.
Langdon fiel es noch immer schwer, sich vorzustellen, dass diese winzige Stadt, kaum größer als der Central Park in New York, sich irgendwie aus dem Meer erhoben hatte, um zum mächtigsten und reichsten Imperium des Okzidents zu werden.
Als Maurizio das Boot näher an den Steg lenkte, sah Langdon, dass der Platz vor Menschen überquoll. Napoleon hatte den Markusplatz einmal als den ›Salon Europas‹ bezeichnet. Wie es aussah, fand in diesem Salon soeben eine Party für viel zu viele Gäste statt. Die Piazza sah aus, als würde sie im nächsten Moment unter dem Gewicht ihrer Bewunderer versinken.
»Mein Gott«, flüsterte Sienna und starrte zu den Menschenmassen.
Langdon war sich nicht sicher, ob sie befürchtete, dass Zobrist sein Pathogen an einem derart dicht bevölkerten Ort freigesetzt haben könnte … oder ob ihr allmählich klar wurde, dass Zobrist vielleicht doch nicht so Unrecht hatte, was die Überbevölkerung betraf.
Venedig beherbergte jedes Jahr eine geradezu atemberaubende Zahl an Touristen: geschätzt 0,3 Prozent der Weltbevölkerung, was im Jahre 2000 zwanzig Millionen Besuchern entsprach. Da seitdem gut eine Milliarde Erdenbewohner hinzugekommen waren, stöhnte die Stadt nun unter dem Gewicht von drei Millionen weiteren Touristen pro Jahr. Wie auf der Erde selbst, gab es auch in Venedig nur begrenzten Raum, und irgendwann würde die Stadt nicht mehr genug Nahrung einführen, Müll verarbeiten oder Betten für alle finden können, die sie besuchen wollten.
Ferris stand neben Langdon, doch sein Blick war nicht auf den Platz, sondern aufs Meer gerichtet. Er beobachtete die einlaufenden Schiffe.
»Alles in Ordnung?«, fragte Sienna und musterte ihn neugierig.
Ferris drehte sich abrupt zu ihr um. »Jaja, alles in Ordnung … Ich denke nur ein wenig nach.« Er rief zu Maurizio: »Bringen Sie uns so nahe zum Markusdom, wie Sie können!«
Der Bootsführer winkte zum Zeichen, dass er verstanden hatte. »Keine Problem! Zwei Minuten!«
Das Wassertaxi war nun auf Höhe des Markusplatzes, und rechts erhob sich majestätisch der Dogenpalast.
Der Palast war ein perfektes Beispiel für die von schlichter Eleganz geprägte venezianische Gotik. Hier gab es nicht die Türme und Spitzen, wie man sie an den Palästen in England und Frankreich fand. Es war ein großer, rechteckiger Bau, der möglichst viel Grundfläche für den Dogen, seine Regierung und seine Beamten bieten sollte.
Vom Meer aus betrachtet hätte der riesige weiße Kalksteinpalast erdrückend gewirkt, wäre die Fassade nicht von Säulengängen, Loggien und Durchbrüchen aufgelockert worden. Geometrische Muster aus rosafarbenem Sandstein liefen die gesamte Außenseite entlang, und Langdon fühlte sich an die Alhambra in Spanien erinnert.
Als das Boot sich der Anlegestelle näherte, schien Ferris sich wegen der Menschenmenge vor dem Palast Sorgen zu machen. Besonders auf einer Brücke drängten sich die Leute und deuteten in einen schmalen Kanal, der zwischen zwei großen Teilen des Dogenpalastes hindurchführte.
»Was sehen die sich da an?«, verlangte Ferris zu wissen. Er sah nicht nur nervös aus, er klang auch so.
»Il Ponte dei Sospiri«, antwortete Sienna. »Eine berühmte venezianische Brücke.«
Langdon spähte die Wasserstraße hinunter und sah einen wunderschön verzierten Tunnel mit gewölbter Decke, der zwischen zwei Gebäuden hindurchführte. Die Seufzerbrücke. Er erinnerte sich an den Film Ich Liebe Dich , einen Film aus seiner Kindheit, der auf einer Art Legende beruhte: Wenn zwei junge Liebende sich bei Sonnenuntergang unter dieser Brücke küssen, während die Glocken des Markusdoms läuten, dann wird ihre Liebe ewig halten. Diese zutiefst romantische Vorstellung hatte Langdon sein ganzes Leben hindurch begleitet. Was unter anderem auch daran lag, dass der Star des Films eine entzückende vierzehnjährige Newcomerin mit Namen Diane Lane gewesen war, in die der junge Langdon sich sofort verliebt hatte … ein Gefühl, das er, wie er zugeben musste, nie wirklich losgeworden war.
Jahre später war Langdon regelrecht entsetzt gewesen, als er erfahren hatte, dass die Seufzerbrücke ihren Namen keineswegs innigen Küssen verdankte, sondern Elend und Leid. Die
Weitere Kostenlose Bücher