Inferno
Treppenabsatz erreichten, stemmte Marta atemlos die Hände in die Hüften. Sienna war bereits an der Brüstung und sah aufgeregt nach unten in den Saal.
»Das ist auch meine Lieblingsstelle«, schnaufte Marta. »Von hier oben hat man eine ganz andere Perspektive auf die Fresken. Ich nehme an, Ihr Bruder hat Ihnen von der mysteriösen Botschaft erzählt, die in diesem Bild dort verborgen ist?«
Sienna nickte eifrig. »Cerca trova.«
Der amerikanische Professor trat an die Brüstung und blickte nach unten. Marta musterte ihn. Im Licht der Balkonfenster sah er nicht halb so umwerfend aus wie am Abend zuvor. Zugegeben, er trug einen schicken neuen Anzug, aber er hatte dringend eine Rasur nötig, und sein Gesicht wirkte müde und eingefallen. Auch das Haar, am Vorabend dicht und voll, wirkte an diesem Morgen matt und fettig, als hätte er noch nicht geduscht.
Marta wandte sich dem Fresko zu, bevor er ihren prüfenden Blick bemerken konnte. »Wir stehen hier auf gleicher Höhe mit Vasaris Botschaft, cerca trova «, sagte sie. »Man kann die Worte fast mit bloßem Auge lesen.«
Die Schwester des Professors schien sich nicht für das Fresko zu interessieren. »Erzählen Sie mir von der Totenmaske, Marta. Warum wird sie hier im Palazzo Vecchio aufbewahrt?«
Wie der Bruder, so die Schwester , dachte Marta und stöhnte innerlich. Die Faszination der beiden für die Maske war verblüffend. Andererseits hatte die Totenmaske Dantes eine sehr merkwürdige Geschichte, insbesondere in jüngerer Zeit. Der amerikanische Professor war nicht der erste, der geradezu besessen von ihr schien. »Nun denn. Verraten Sie mir, was wissen Sie über Dante?«
Die hübsche junge Blondine hob die Schultern. »Nur das, was jeder in der Schule lernt. Dante war ein italienischer Poet und der Verfasser der berühmten Divina Commedia , in der er seine imaginäre Reise durch die Hölle schildert.«
»Das ist mehr oder weniger richtig«, sagte Marta. »In seiner Dichtung entkommt Dante der Hölle, setzt seine Reise durch das Fegefeuer fort und erreicht schließlich das Paradies. Wenn Sie die Göttliche Komödie lesen, werden Sie sehen, dass seine Reise in drei Abschnitte unterteilt ist – Inferno , Purgatorio und Paradiso .« Marta bedeutete den beiden Amerikanern, ihr zum Eingang des Museums zu folgen. »Dass die Maske hier im Palazzo Vecchio aufbewahrt wird, hat nichts mit der Divina Commedia zu tun, sondern geschichtliche Gründe. Dante lebte in Florenz. Er liebte diese Stadt so sehr, wie man eine Stadt nur lieben kann. Er war ein bekannter und einflussreicher Bürger, doch dann gab es einen Machtwechsel, und Dante hatte die falsche Seite unterstützt. Er wurde verbannt, ins Exil geschickt – man warf ihn aus der Stadt, und er durfte niemals wieder zurückkehren.«
Marta rang nach Atem, die Hände in die Hüften gestemmt. Sie lehnte sich zurück und setzte ihre Erklärung fort. »Manche Leute glauben, dass Dantes Exil der Grund ist, warum seine Totenmaske so unendlich traurig wirkt, aber ich habe eine andere Theorie. Ich bin ein wenig romantisch und glaube, seine Traurigkeit hat mehr mit einer Frau namens Beatrice zu tun. Verstehen Sie, Dante hatte sich unsterblich in eine junge Florentinerin namens Beatrice Portinari verliebt. Doch Beatrice heiratete einen anderen Mann, was bedeutete, dass Dante nicht nur ohne sein geliebtes Florenz leben musste, sondern auch ohne die Frau, die er so tief begehrte. Seine Liebe zu Beatrice wurde ein zentrales Thema in der Divina Commedia .«
»Interessant«, sagte Langdons Schwester in einem Tonfall, der Marta vermuten ließ, dass sie keine Sekunde lang zugehört hatte. »Mir ist aber immer noch nicht klar, warum die Maske hier im Palazzo Vecchio aufbewahrt wird.«
Marta fand die Beharrlichkeit der jungen Frau ebenso ungewöhnlich wie unverfroren. »Nun ja, Sienna«, sagte sie und setzte sich wieder in Bewegung. »Dante starb im Exil. Sein Leichnam wurde in Ravenna beigesetzt. Doch wegen seiner großen Liebe Beatrice, die in Florenz beerdigt wurde, und weil Dante sich so sehr nach seiner Heimatstadt sehnte, dachte man wohl, es sei ein Akt der Ehrerbietung für diesen berühmten Sohn der Stadt.«
»Ich verstehe«, sagte die junge Frau. »Und warum ausgerechnet hier im Palazzo Vecchio?«
»Der Palazzo Vecchio ist das älteste Symbol von Florenz und war zu Dantes Zeit der Mittelpunkt der Stadt. Es gibt ein berühmtes Gemälde im Duomo, das Dante vor der umwallten Stadt zeigt, in der Verbannung, und im
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