Ingrid
telepathische Nachricht von Nel. Cybertelepathie.
Morgen würde sie mir wahrscheinlich einen Traum schicken, in dem ich ins Groningische Feerweerd reiste, um bei ihrem Vater, dem genialen Fahrradkonstrukteur, um ihre Hand anzuhalten, während ihre Mutter und der übrige Kirchenchor mit Engelsgesang die passende Hintergrundmusik dazu anstimmten.
Um halb zehn hörte ich unten das Telefon läuten. Ich musste aufstehen, um dranzugehen, denn ich hasse Telefone in meinem Schlafzimmer. Barfuß im Pyjama nahm ich den Hörer ab: »Max Winter.«
»Hier spricht Simon Welschap von der Anwaltskanzlei Louis Vredeling. Louise Vredeling hat mir Ihre Nummer gegeben, für den Fall, dass wir Informationen bräuchten.«
Wer für meinen Verlobten arbeitet, arbeitet auch für mich, hatte Louise offenbar gedacht. »Ja?«
»Wir versuchen, Mevrouw Brack zu erreichen, weil wir einige Angaben im Zusammenhang mit dem Vormundschaftssverfahren benötigen.«
»Was möchten Sie wissen?«
»Welches Jugendamt den Fall bearbeitet hat und welches Gericht zuständig ist.«
Ich antwortete: »Unsere Gegend fällt in den Zuständigkeitsbereich des Jugendamtes Arnheim, und ich nehme an, dass es dort auch ein Amtsgericht gibt.«
»Wissen Sie zufällig, welcher Sachbearbeiter beim Jugendamt zuständig ist und welcher Richter den Fall bearbeitet?«
»Ich habe mit Mevrouw Anniek van Wessel vom Jugendamt gesprochen, den zuständigen Richter kenne ich nicht.«
»Ich hoffe, dass ich Mevrouw Brack bald erreichen kann, ich brauche noch weitere Informationen, und die Sache eilt. Louise dachte, Sie könnten vielleicht mal kurz …«
Mich überkam das Gefühl, das Ganze schon einmal erlebt zu haben. »Vielleicht schläft sie noch, aber ich schaue gleich mal kurz vorbei«, versprach ich.
Ich rief die Polizei in Geldermalsen an. Der Spa war schon da. »Wir werden ihn so schnell wie möglich dem Haftrichter vorführen«, sagte er, als ich ihn fragte, wie es mit seinem Häftling stehe. »Ich gehe davon aus, dass er danach in Untersuchungshaft kommt.«
»Habt Ihr die Mordwaffe schon entdeckt?«
»Ja, die haben wir gestern auf seine Anweisungen hin im Kofferraum seines Autos in der Garage gefunden. Eine ganz normale Brechstange, darauf hat ja das Ergebnis der Autopsie schon hingedeutet. Fingerabdrücke von Brack am Griff, den Rest untersucht das Labor.«
»Haben die Medien schon Wind davon bekommen?«
»Nicht durch uns. Wir warten noch mit Presseberichten und einer eventuellen Pressekonferenz bis nach der Vorführung beim Richter.«
»Halte mich da raus«, sagte ich. »Wenn das geht. Ihr wart dem Täter schon dicht auf den Fersen, und letztendlich hat er sich selbst gestellt.«
»Brauchst du keine Werbung?«, fragte er spöttisch.
»Ich habe Arbeit genug.«
Nach dem Frühstück kam ich zu dem Schluss, dass ein Morgenspaziergang sowohl meiner Kondition als auch meiner Gemütsruhe gut tun würde.
Der Deich war ruhig, keine Pontiacs weit und breit. Im Haus der Bracks war alles still, auch als ich schellte rührte sich nichts.
Ich lief den Backsteinweg zwischen den Sträuchern und der seitlichen Hausmauer hinunter. Währenddessen überlegte ich, dass dies wohl das einzige Haus auf dem Deich war, bei dem Besucher nicht automatisch hinten rum gingen. Anders als bei mir, Bokhof oder Jennifer.
Da machte etwas in mir Klick. Ich stand vor der geschlossenen Terrassentüre, als mich der Gedanke plötzlich wie eine Windböe erfasste.
’Warum war Ingrid nicht hinten rum gegangen?
Ich drückte mein Gesicht an die Scheibe und schaute ins Wohnzimmer der Bracks hinein. Alles sah normal aus. Vielleicht war Ingrid mit Tommy spazieren, Kahn fahren, einkaufen gegangen.
Ich setzte mich in einen der weißen Gartenstühle und blickte auf den Fluss. Apfel reiften an dem Baum am Ufer. Eine Amsel flüchtete lärmend aus dem Unterholz. Enten hoben die Köpfe. Eine von ihnen verschwand mit einer dramatischen Rolle vorwärts unter Wasser. Das Ruderboot am Anlegesteg rief Erinnerungen an spielerische Ertrinkensgefahr und spontanen Sex in mir wach. Also waren sie nicht Kahn fahren.
Ingrid musste hundert Mal bei Jennifer vorbeigeschaut haben, mit einem Malbuch oder einem Brummkreisel für Tommy, um Tommy abzuholen oder zurückzubringen, um mit Jenny eine Tasse Tee zu trinken. Ingrid ging dort ein und aus, und all die Male war sie garantiert hinten rum gegangen.
Wenn sie an jenem Morgen ganz normal ums Haus gegangen wäre, hätte sie eine zerbrochene Scheibe vorgefunden, eine
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