Inkarnationen 01 - Reiter auf dem schwarzen Pferd - V3
selbst für deine Verhältnisse.«
»Ich verstehe etwas vom Umbringen von Müttern«, sagte Zane.
»Das ist gut. Sie... ich war noch ein Teenager, als... na ja... sie lag auf dieser Krankenstation
und...«
»Ich verstehe«, wiederholte Zane. Er streckte den Arm aus und nahm die Hand des Mannes. Er wußte
zwar, daß sich seine behandschuhten Finger wie Knochen anfühlten, doch der Grubenarbeiter wich
nicht zurück.
»Sie hatte Krebs, und ich wußte, daß sie unter Schmerzen litt, aber...« Zane drückte seine
Hand.
Beruhigt fuhr der Bergmann fort: »Ich habe sie besucht, und eines Tages bat sie mich, aus dem
Raum zu gehen und zu lesen, was auf dem... du weißt schon, über der Tür, was da für ein Wort
stand. Also ging ich hinaus und sah nach, und da stand etwas geschrieben, aber ich konnte es
nicht lesen. Ich glaube, es war lateinisch. Ich ging wieder hinein und sagte es ihr, und sie
fragte mich, ob es... sie hat es buchstabiert. Buchstabe um Buchstabe, und weißt du was? Sie
hatte recht, genauso war es geschrieben gewesen. Also sagte ich ja und wunderte mich noch, wieso
sie das gewußt hatte, und sie dankte mir. Ich glaubte, sie wäre zufrieden.«
Der Bergmann erschauerte. »Und am nächsten Morgen war sie tot. Der Arzt meinte, daß sie
anscheinend einfach aufgegeben hatte und in der Nacht gestorben war. Niemand wußte warum, weil
sie vorher so hart darum gekämpft hatte, am Leben zu bleiben. Aber ich... ich ging der Sache nach
und fand heraus, daß das lateinische Wort, das ich ihr buchstabiert hatte... es hieß unheilbar.
Ich hatte ihr also mitgeteilt, daß es keine Hoffnung mehr gab, und so gab sie einfach auf. Ich
schätze, ich habe sie umgebracht.«
»Aber das wußtest du doch gar nicht!« protestierte Zane.
»Ich hätte es aber wissen müssen. Ich hätte...«
»Dann hast du ihr einen Gefallen getan«, widersprach Zane. »Die anderen haben ihr die Wahrheit
verheimlicht und sie unter Schmerzen am Leben gehalten. Du hast sie von ihrem Zweifel erlöst.« Er
sprach ebensosehr für sich selbst wie für den Grubenarbeiter. »Das ist keine Sünde, die deine
Seele belastet.«
»Nein, ich hätte es sie nicht wissen lassen dürfen!«
»Wäre es etwa recht gewesen, ihr Leben durch eine Lüge zu verlängern?« fragte Zane. »Wäre deine
Seele dann reiner gewesen?«
»Es stand mir nicht zu...«
»Ach, hör doch auf!« sagte der andere Bergmann. »Deine einzige Schuld war die Unwissenheit. Sonst
nichts. Ich hätte auch nicht gewußt, was diese lateinischen Worte bedeuten.«
»Woher auch?« konterte der andere. »Du warst ja schließlich nicht dabei!«
»Nein, das war ich wohl nicht«, gab der zweite Bergmann sarkastisch zu. »Ich weiß ja auch nicht
einmal, wer meine Mutter war.«
Der erste Bergmann hielt inne, etwas verblüfft. »Da ist etwas dran«, gab er zu. Indem er dieses
technische Zugeständnis machte, schien er auch den menschlichen Faktor der Sache zu akzeptieren.
Er wenigstens hatte seine Mutter gekannt und sie geliebt.
»Nun bin ich bestimmt kein Philosoph«, fuhr der zweite Bergarbeiter fort. »Ich bin durch und
durch ein Sünder. Aber wenn ich eine Mutter gehabt hätte wie du, eine gute Frau, dann wäre ich
vielleicht ein besserer Mensch geworden. Also laß dir von jemandem sagen, der eigentlich gar kein
Recht hat, es auszusprechen: Du solltest deine Mutter nicht voll Schuld oder Trauer in Erinnerung
behalten, sondern voller Dankbarkeit für die Freude, die sie dir bescherte, als sie noch am Leben
war, dafür, daß sie dich in Richtung Himmel geführt hat und nicht in Richtung Hölle.«
»Für einen Sünder bist du bemerkenswert einsichtig! Aber wenn ich ihr nur hätte helfen können,
ein bißchen länger zu leben...«
»Länger in einem Kasten, in dem die Luft schal wird?« fragte der andere.
»Nein, da muß ich zustimmen«, sagte Zane. »Es war Zeit, die Sache zu beenden. Diese Dinge folgen
einem Zeitplan, den kein Sterblicher versteht. Sie wußte das, auch wenn du es nicht wußtest. Wenn
es noch eine Überlebenschance gegeben hätte, so wäre sie vielleicht bereit gewesen, die Sache
durchzustehen, um ihrer Familie willen, um der Dinge willen, die sie auf Erden noch zu erledigen
hatte. Doch es gab diese Chance nicht. Deshalb war es auch das Beste, daß sie sich nicht länger
quälte. Sie hat ihr Leben beiseite gelegt, wie du es mit einem untauglich gewordenen Werkzeug tun
würdest, und sie hat die Düsternis ihres Jammertals gegen die strahlende Helligkeit des Himmels
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