Inkarnationen 01 - Reiter auf dem schwarzen Pferd - V3
Anschein, und seine Knöchel über den Schuhen waren nur
fleischlose Knochen. Er hatte das Aussehen des Todes angenommen.
»Natürlich sind Sie für die meisten Leute unsichtbar, solange Sie Ihre Uniform tragen«, erklärte
die Norne. »Ihre Klienten können Sie zwar sehen, und auch jene, die ihnen emotional nahestehen,
sowie die wahrhaft religiösen Menschen, aber der Rest wird Sie übersehen, es sei denn, Sie lenken
selbst ihre Aufmerksamkeit auf sich.«
»Aber der Spiegel zeigt doch mein Ebenbild - und zwar als Tod! Die Leute werden in Ohnmacht
fallen!«
»Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Sie sind nicht physisch unsichtbar; Sie sind
gesellschaftlich unsichtbar. Die Leute können Sie zwar sehen, aber sie erkennen Ihre Bedeutung
nicht und vergessen Sie sofort wieder, sobald Sie vorbeigegangen sind. Aber wenn Sie Ihre Uniform
ablegen, verlieren Sie Ihre Kräfte. Dann sind Sie verwundbar: Sie können altern und berührt
werden und Verletzungen erleiden. Also fallen Sie nicht ohne guten Grund aus der Rolle.«
»Warum sollte der Tod denn aus der Rolle fallen wollen?«
Sie produzierte ein obskures kleines Lächeln. »Es wird auf die Dauer langweilig, ausschließlich
mit seinesgleichen zu verkehren. Es heißt, daß ich in meinem Aspekt als Clotho...«
Plötzlich wurde sie zu einer jungen, wunderschönen, betörenden Frau mit Haaren, die so hell
waren, daß sie zu schimmern schienen, mit einer alabasterfarbenen Haut, doch ihre Augen hatten
nach wie vor einen beunruhigend wissenden Ausdruck.
»Und dennoch würde ich Ihr Interesse nicht auf Jahrhunderte binden können, vielleicht nicht
einmal auf Jahrzehnte. Also müssen wird uns gelegentlich mit Sterblichen abgeben.«
Zane fragte sich, wie viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte es dauern würde, bis einen eine Frau,
die so aussah, langweilen konnte. Es war ein faszinierender Gedanke, aber schon im nächsten
Augenblick konzentrierte er sich wieder auf seine vorherige Sorge. »Wie kann eine einzige
Todesperson mehrere Leute pro Sekunde holen? Während wir uns gerade unterhalten haben, müssen
doch schon Hunderte von Leuten gestorben sein! Ich habe ihre Seelen nicht geholt, und der hier
auch nicht, denke ich mir.« Er zeigte auf den ausgeschalteten Tod.
»Ich sehe schon, daß ich die Angelegenheit wohl etwas ausführlicher erklären muß.« Die Norne nahm
wieder ihren Aspekt als Frau mittleren Alters an und setzte sich in Zanes besten Sessel. Ihr Auge
erspähte den Reichtumstein, der daneben auf dem Tisch lag. »Ach, ich sehe, daß Sie einen
Schrottstein haben. Mit dem beschaffen Sie sich wohl Zehner zum Telefonieren, wie?«
»So ähnlich«, gab Zane etwas verlegen zu.
»Ich habe sie schon früher mal zu Gesicht bekommen. Der Stein ist ein minderwertiges Exemplar
eines Rubins aus Indien. Diese Ware wird en gros importiert und in Partien zu fünftausend Karat
zum Preis von fünfzig Cents pro Karat verkauft. Technisch gesehen handelt es sich um einen
Korund, aber von einer viel zu minderwertigen Qualität, um einen ordentlichen Zauber halten zu
können. Ich habe gehört, daß sich manche Trottel dazu verleiten lassen, hohe Preise, wie sie für
erstklassige Juwelen üblich sind, für einen einzigen dieser Steine zu bezahlen.«
»Das stimmt«, bejahte Zane und zog die Todeskapuze vors Gesicht, um sein Erröten zu
verbergen.
»Aber trotzdem, als billige Kuriosität ist das Ding nicht schlecht. Ab und zu gibt es Steine, die
einen etwas besseren Zauber zu halten vermögen, die können dann immerhin Dollarnoten orten. Aber
es ist ein Grundaxiom, daß ein derartiger Stein niemals denselben Wert einbringen wird, den man
für ihn bezahlt hat.«
Zane dachte wieder - schmerzerfüllt - an die schöne, reiche, romantische Angelica. »Das ist
wahr.«
»Na ja, Sie werden ja jetzt kein Geld mehr brauchen, es sei denn, Sie verbringen sehr viel Zeit
ohne Ihre Uniform und bekommen Hunger. Es wäre besser, sich für solche Gelegenheiten ein kleines
Füllhorn zu besorgen. Aber Ihr Job wird Sie erst einmal viel zu sehr beschäftigen, bis Sie die
entsprechende Routine entwickelt haben.«
»Ich verstehe immer noch nicht, wie...«
»Ach ja, das wollte ich ja gerade eben erklären. Also, nur ein kleiner Prozentsatz von Leuten
bedarf der persönlichen Aufmerksamkeit des Todes. Die überwiegende Mehrheit sorgt schon selbst
für ihren Übergang - obwohl das natürlich nur durch den Willen des Todes selbst geht, der sich
ihnen durch Ausweitung nähert.«
»Der
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