Inkarnationen 01 - Reiter auf dem schwarzen Pferd - V3
waren miteinander verschmolzen, und
seine Uhr gab ihm nur noch eine einzige Minute. Er war seinem Ziel sehr nahe.
Derart beruhigt, fuhr Zane mit größerer Zuversicht weiter. Er fing langsam an, die Hilfswerkzeuge
des Todes zu verstehen.
Er begriff nun, daß das Auge so lange größer wurde, bis es den gesamten Stein bedeckte, und das
würde dann der Fall sein, wenn er angekommen war. Als der Richtungsanzeiger sich zu bewegen
begann, obwohl er selbst doch in einer geraden Linie fuhr, wußte Zane, daß er dort war. Gerade
noch rechtzeitig: Der rote Uhrzeiger zeigte nur noch dreißig Sekunden an.
Das Auge hatte seine größtmögliche Ausdehnung erreicht, und der Pfeil wirbelte einen vollen Kreis
herum. Zane mußte genau an der richtigen Stelle sein - nur daß dort nichts war. Er fuhr gerade
über eine ganz gewöhnliche Kreuzung. Handelte es sich etwa um einen falschen Alarm?
Er drosselte das Tempo und lenkte verwundert an den Straßenrand. Er hatte geglaubt, er hätte es
geschafft, und nun sah es ganz danach aus, als sei dem nicht so gewesen. Der Pfeil beruhigte sich
und zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war. Er zeigte auf nichts. Der Zentralzeiger auf
der Todesuhr rückte auf die Zwölfermarke.
An der Kreuzung erscholl ein Krachen. Ein kleiner Lastwagen hatte einem winzigen japanischen
Kleinwagen durch eine plötzliche Linkskurve die Vorfahrt abgeschnitten, und die beiden waren
heftig aufeinandergeprallt.
Zane stellte den Motor ab und stieg aus dem Todeswagen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob
er im Halteverbot stand oder nicht. Er eilte zum Unfallort.
Der Mann in dem Lastwagen war halb betäubt. Der Frau in dem Kleinwagen steckte ein gewaltiger
Splitter angeblich bruchsicheren Glases im Hals. Das Blut strömte aus ihr hervor, überspülte das
Armaturenbrett - doch sie war nicht tot.
Zane zögerte, angewidert. Er sah keine Möglichkeit, die Frau zu retten - doch was sollte er tun?
Um sie herum kamen quietschend Autos zum Stillstand, Teppiche landeten, und von überall kamen
Leute herbeigelaufen.
Die Augen der Frau klärten sich für einen Moment.
Sie erblickte Zane.
Ihre Pupillen zogen sich zu winzigen Nadelköpfen zusammen. Sie versuchte zu schreien, doch das
Blut schnitt ihr die Luft ab und erstickte den Schrei.
Irgend jemand zupfte Zane am Ellenbogen. Er schrak zusammen. Neben ihm stand die Norne. »Quälen
Sie sie nicht, Tod!« sagte die Schicksalswalterin. »Machen Sie dem Ganzen ein Ende.«
»Aber sie ist doch gar nicht tot!«
»Sie kann nicht sterben - nicht richtig -, bevor Sie ihre Seele geholt haben. Sie muß in
schrecklichen Qualen verharren, bis Sie dem ein Ende machen. Sie und all die anderen, die in
diesem Zeitraum zu sterben versuchen. Tun Sie Ihre Pflicht, Tod.«
Zane stolperte auf das Wrack zu. Die entsetzten Augen der Frau verfolgten sein Vorankommen.
Vielleicht sah sie ja sonst nichts anderes, doch ihn sah sie mit Sicherheit - und Zane
wußte von seiner jüngsten eigenen Begegnung, wie grauenerregend die nahende Erscheinung des Todes
war. Jedoch wußte er nicht, was er tun sollte, um ihr Leben zu beenden.
Das Kleid des Opfers war zerfetzt und offenbarte, wie die Glaskante ihr die ganze rechte Brust
zerschnitten hatte, so daß ihr Oberkörper nur noch eine blutige Masse war. An diesem Abgang war
absolut nichts Schönes oder Barmherziges. Er mußte so schnell wie möglich beendet werden. Und
doch versuchte die Frau, sich gegen sein Nahen zu stemmen. Sie riß die linke Hand hoch, um ihn
abzuwehren. Die Hand hing schlaff an ihrem gebrochenen Gelenk. Zane hatte noch nie zuvor
derartigen emotionellen und körperlichen Schmerz erlebt, nicht einmal damals, als seine
Mutter...
Er griff nach ihr, immer noch unsicher, was er tun sollte. Ihr Handgelenk blockte seine Hand ab,
doch sein Fleisch drang ohne jeden Widerstand durch das ihre. Seine gekrümmten Finger bekamen
etwas zu fassen, das sich wie ein Spinnweben anfühlte, mitten in ihrem Kopf. Er riß die Hand
zurück - und zog dadurch eine Girlande hinter sich her, die aus einem flüchtigen Film bestand,
wie der Stoff, aus dem Seifenblasen waren. Angeekelt versuchte er, sie abzuschütteln, doch sie
blieb wie ein Speichelfaden an ihm kleben. Er hob die andere Hand, in der er das juwelenbesetzte
Armband hielt, und versuchte, das Zeug abzukratzen. Der dünne Film riß entzwei, blieb aber dafür
auch an seiner zweiten Hand kleben.
»Das steht Ihnen nicht zu, Tod«, sagte die Norne tadelnd. »Das ist ihre
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