Inkarnationen 01 - Reiter auf dem schwarzen Pferd - V3
Mensch, der mir am nächsten steht, an den ich mich anlehnen kann. Ich möchte
mein restliches Leben noch genießen, bevor es auf alle Zeiten vorbei ist. Bevor ich zu dem Dämon
zurückkehren muß.«
»Lauert der Dämon dir etwa immer noch auf?« fragte Zane entsetzt. Er hatte geglaubt, daß die
Sache vorbei sei.
»Ja. Aber solange ich lebe, kann er mich nicht erreichen, es sei denn, ich rufe ihn, und das
werde ich nie wieder tun. Aber wenn ich in die Hölle komme, werde ich für immer in seiner Gewalt
sein.«
»Du darfst nicht in die Hölle kommen!« protestierte er. »Du mußt deine Bilanz irgendwie
verbessern, damit du in den Himmel gelangst!«
»In weniger als einem Monat?« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Ich besitze Steine, die Gut und
Böse abwägen können, genau wie du, und einige davon funktionieren sogar mit weißer Magie, so daß
ich sie nach Belieben benutzen kann, auch wenn sie für mich nicht so gut funktionieren. Ich kenne
meine Bilanz. Ich stehe zu tief in der Schuld Satans, um jetzt noch entkommen zu können.«
»Aber es muß doch eine Möglichkeit geben! Du kannst noch sehr viel Gutes tun, kannst edlen
Wohltätigkeitsorganisationen etwas spenden, kannst engelhafte Gedanken denken...«
Wieder schüttelte sie den Kopf.
»Du weißt es doch besser, Tod. Gute Taten, die man aus einem solchen, rein selbstsüchtigen Grund
tut, zählen nicht. Ich hätte mein Böses ausgleichen müssen, bevor ich erfuhr, daß ich bald
sterben werde. Jetzt ist es dafür zu spät.«
»Was... wie sollst du denn überhaupt sterben?« fragte Zane zögernd, die Antwort fürchtend.
»Ich weiß es nicht. Ich bin nicht krank, und zu Unfällen neige ich auch nicht. Vielleicht wird
mich irgend jemand ermorden.«
»Nicht, wenn ich etwas dagegen unternehmen kann«, murmelte Zane grimmig. Er beschloß, sofort nach
seinem Rendezvous mit Luna ins Fegefeuer zurückzukehren und dort die entsprechenden Akten
einzusehen.
Sollte er herausbekommen, auf welche Weise sie umgebracht werden sollte, so konnte er vielleicht
etwas arrangieren, um die Sache aufzuhalten. Er wußte bereits, daß ein planmäßiger Abgang kein
unumstößliches Dogma war; er selbst hatte ja auch schon einige solcher Pläne umgeändert. Und wenn
sie in der Zwischenzeit zu Hause blieb, so würde ihr unsichtbarer Mondfalter sie schon sehr gut
beschützen können.
»Pearl Harbor!« rief Molly. »Seht mal, die Flugzeuge! Die haben die Verteidiger in einem
unbewachten Augenblick erwischt. Deshalb sind die Vereinigten Staaten von Amerika in den Zweiten
Weltkrieg eingetreten.«
Doch schon bewegte sich der Wagen zur nächsten Sehenswürdigkeit. »Der nukleare Präventivschlag,
der den dritten Weltkrieg auslöst«, bemerkte Molly mit einer gewissen Begeisterung in der Stimme.
»Der hier hat wirklich eine Menge Gespenster erzeugt, das könnt ihr mir glauben!« Und es erschien
ihnen, als würden sie durch den Kern der Sonne reisen, rundum von grellem, blendendem Licht
umhüllt.
»Der dritte Weltkrieg?« fragte Luna. »Der ist doch noch gar nicht passiert!«
»Wir Gespenster sind nicht durch Zeitgrenzen beschränkt, wie es für die Lebenden gilt«, erklärte
Molly. »Wir sehen alles.«
»Wann soll der dritte Weltkrieg denn stattfinden?« fragte Zane, etwas nervös geworden.
»Das mußt du Mars fragen: Er arbeitet schon eine ganze Weile daran, es soll die Krönung seines
Werks werden. Ich glaube, daß man die Zeit noch nicht genau festlegen konnte, weil sich die
Ewigen nicht einig wurden. Satan möchte, daß er stattfindet, wenn die Bilanz des Bösen zu seinen
Gunsten ausfällt; Gott wiederum will lieber seine eigene Seite bevorzugt wissen. Im Augenblick
ist das Gleichgewicht derartig labil, daß beide nicht genau vorhersagen können, wohin die
Mehrheit der jetzt lebenden Menschen kommen würde, wenn man jetzt ihre Seelen freiließe. Deshalb
wagt keine der beiden Seiten es, den endgültigen Krieg zu provozieren. Doch sollte sich das
Gleichgewicht irgendwie verschieben, sei es zur einen oder zur anderen Seite...«
»Die Welt befindet sich also im Gleichgewicht, wie eine individuelle menschliche Seele?« fragte
Zane. »Das ist aber vielleicht eine Situation!«
»Ist das alles, was Gott oder Satan an dieser Welt interessiert?« wollte Luna wissen. »Wer von
ihnen nach ihrem Ende die meisten Seelen erhält?«
»So erscheint es uns«, antwortete Molly. »Natürlich sind wir bloß Gespenster, die die wirklichen
Motive der Ewigen nicht unbedingt kennen.
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