Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
bin ich das, Mädchen im Geiste, pflichtete Atropos ihr bei. Aber in der
wirklichen Welt mußte ich mir meinen Lebensunterhalt immer selbst verdienen, und dafür habe ich
mich auch nie geschämt.
Niobe lächelte wehmütig. Sie war weder befreit gewesen noch eine Dienstbotin, vielmehr hatte sie
von beidem etwas gehabt. Anders als Clotho hatte sie den Mann geheiratet, den ihr Vater für sie
ausgesucht hatte; anders als Atropos hatte sie nie für einen anderen arbeiten müssen. Doch hätte
sie von Anfang an etwas mehr aufbegehrt, so hätte sie ohne weiteres Clothos Weg folgen können und
hätte daraufhin Atropos' Weg folgen müssen. Die Welt wurde im Prinzip immer noch von Männern
beherrscht.
Und dennoch spinnen wir die Lebensfäden! warf Clotho ein.
Ja, und wir schneiden sie auch ab! fügte Atropos hinzu.
»Nun, wir sind die Frau«, sagte Niobe lächelnd. »Wir verfügen über eine Macht, die kein Mann zu
leugnen vermag.«
Als sie sich dem Haus näherten, ertönte aus einem Baum ein schriller Laut; es klang wie der
Schrei eines großen Vogels und gleichzeitig wie das Keifen einer zänkischen Frau. Dann erhob sich
eine mächtige, dunkle Gestalt aus dem Baum und flatterte mit riesigen Schwingen.
Das ist ja eine verdammte Harpyie! dachte Atropos.
»Hm«, machte Niobe. »Die läßt sich von den magischen Fäden nicht aufhalten, denn die ist
unsterblich.«
Vielleicht kann ich sie mit einigen Hieben und Griffen abwehren, dachte Clotho.
»Das nützt nichts. Du könntest sie zwar schlagen oder beiseite schleudern, doch ihren Schmutz
bekämst du dabei trotzdem ab. Sie kann uns nichts anhaben, selbst wenn wir nichts gegen sie
unternehmen, aber sie kann uns ganz widerlich verschmutzen.«
Das häßliche Geschöpf flatterte unbeholfen auf sie zu. Es hatte das Gesicht und den Oberkörper
einer alten Frau und den Rumpf eines Raubvogels. Die dicht aneinanderstehenden, faltenbedeckten
Augen hielten nach Niobe Ausschau.
Einen Augenblick blieb die Harpyie schweben, offensichtlich überrascht, und ein stechender
Gestank wurde durch ihren Flügelschlag nach unten gepreßt.
»Was tust du hier, Lachesis?« wollte sie wissen. Ihre Zähne waren lang und gelb. »Das hier geht
dich nichts an, du vorwitzige Schnüfflerin!«
»Das geht mich sehr wohl etwas an, du stinkende Henne«, konterte Niobe. »Und nun geh mir aus dem
Weg, sonst fange ich dich mit einem Faden ein.« Es war zwar ein Bluff, aber sie hoffte, daß die
Harpyie darauf hereinfiel.
»Mich hält kein Faden von dir fest, Spinnengesicht!« kreischte die Harpyie. »Hau ab, oder ich
furze dich voll!«
Das war keine leere Drohung! Doch Niobe wußte, daß sie den Senator unbedingt erreichen mußte,
bevor der Dämon aus der Hölle es tat. Sie konnte sich keine Verzögerung erlauben. Überlaß mir
den Körper! dachte Atropos. Mit dieser Sorte weiß ich umzugehen!
Niobe zog sich zurück, und Atropos nahm Gestalt an. Sie verließ den Weg und schritt über die
Wiese zu einem nahe gelegenen Gartenschuppen.
»Oh, jetzt habe ich also mit Atropos das Vergnügen!« kreischte die Harpyie und folgte ihr. »Was
hast du vor, du alte, schwarze Sklavin?«
»Werde mal ein bißchen Müll auskehren«, sagte Atropos. Sie ging in den Schuppen und holte einen
verwitterten Besen hervor.
»Los, fege ihn nur sauber, du dämliche, schuftende Vettel!« geiferte die Harpyie, und ihr
strähniges Haar wirbelte über Atropos' Kopf umher. »Da, damit du dich richtig zu Hause fühlst,
werde ich gleich den Nachttopf über dich ausgießen!«
»Die Weißen haben die Hunde auf uns gehetzt, wenn wir kamen, um ihre Häuser zu säubern«, sagte
Atropos und hob den Besen. In ihren geübten Händen bewegte sich der Besen fast wie eine Waffe.
»Weißt du, was wir da getan haben?«
»Ihr habt euch wahrscheinlich zusammenbeißen lassen«, meinte die Harpyie mit lautem
Gekrächze.
»Wir haben es den Hündinnen auf den Schwanz gegeben!« sagte Atropos. In einem mächtigen und
präzisen Bogen schwang sie den Besen. Die Borsten trafen die Harpyie im selben Augenblick am
Schwanz, als sie gerade ihren Kot entleeren wollte, und schleuderten sie trudelnd durch die
Luft.
Das Untier fiel zappelnd auf den Rücken und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Ungerührt
schritt Atropos mit erhobenem Besen auf das Vogelwesen zu. Die Harpyie richtete sich mühsam
wieder auf und pumpte wie wild mit ihren Schwingen. Tapsig erhob sie sich in die Lüfte und floh
davon, denn hiermit wollte sie nichts mehr zu tun
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