Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
wiederzusehen, Niobe«, sagte er. »Was
möchtest du jetzt gerne tun?«
»Nun, ich werde mich wohl um deine Kleidung kümmern müssen«, sagte sie. »Ich bin sicher, daß sie
sich langsam abnutzt und mal geflickt werden sollte.«
Etwas, was sie überhaupt nicht hatte sagen wollen und was zudem in die Kategorie der Dinge-die-man-niemals-sagt fiel, weil sie sich damit benahm wie eine Mutter. Doch konnte
sie sich das, was sie vielleicht lieber gesagt hätte, nicht einmal vorstellen, geschweige denn
formulieren. Die Bemerkungen des Professors hatten ihre Wahrnehmung verändert, und sie hatte sich
noch nicht wieder richtig angepaßt. Sie liebte es, wenn die Dinge Ordnung aufwiesen, wie die
Fäden in einem Webteppich, und sie haßte es, wenn ein solcher Faden zerriß. Doch einen Faden zu
flicken, war ein Prozeß für sich, der Zeit und Nachdenken verlangte.
»Äh, klar«, stimmte er etwas lahm zu. »Du sorgst immer gut für mich.«
Verdammt! dachte sie wütend. Wieder einmal hatte sie es geschafft, ihn in die Rolle des
Jüngeren zu drängen. Wie sollte er so jemals zu einem richtigen Ehemann werden?
So kehrte sie nach Hause zurück, mit einer Bürde gemischter Gefühle, die noch größer war als
vorher. Sie mochte zwar eine Expertin im Weben kunstvoller Teppiche sein, in Sachen Ehe jedoch
war sie eindeutig eine Versagerin. Sie hatte erwartet, einen erfahreneren Mann zu heiraten, und
sie war einfach nicht kompetent genug, um einen jüngeren so zu erziehen, wie es notwendig war. So
verging ein etwas trüber Winter, und als das Eis an der Oberfläche des Sumpfs geschmolzen war,
begab sie sich wieder zum College. Diesmal hielten sich die Studenten in Scharen im Freien auf,
wo sie den ersten wirklich schönen Tag seit langem genossen. Einige der üppigeren Mädchen trugen
äußerst kurze Kleider, um sich zu bräunen, und die Jungen hatten sogar kurze Hosen an. Niobe, die
an die Schmeicheleien des Professors bei ihrem letzten Besuch dachte, und die nicht mit einem
Collegemädchen verwechselt werden wollte, hatte sich diesmal äußerst konservativ gekleidet. Sie
trug einen altmodischen langen Rock, aus dem schon ihre Mutter herausgewachsen war, und eine
Jacke, die ihre Figur weniger betonte. Das Haar hatte sie zu einem strengen Knoten
zurückgebunden, sie trug keine Schminke und hatte schlichte Stiefel mit Knöpfen an.
Cedric war nicht da, und weil sie nicht wußte, wo er sich im Augenblick aufhalten mochte, nahm
sie in der Nähe des Unterkunftsgebäudes auf einer Bank Platz und wartete auf seine Rückkehr, um
in der Zwischenzeit ein wenig zu stricken.
Einige Collegestudenten kamen den Weg entlang. Es war offensichtlich, daß sie getrunken hatten;
tatsächlich hatte einer von ihnen sogar eine halbleere Rotweinflasche in der Hand. Niobe rümpfte
die Nase. Seit dem Mißgeschick mit Cedric kurz nach ihrer Hochzeit verabscheute sie jede Art von
Wein. Sie war überrascht und gar nicht angetan davon, daß man auf dem Collegegelände das
Weintrinken duldete.
Einer der Jugendlichen blieb stehen, als sie an der Bank vorbeikamen. »He, wer ist denn diese
alte Dame da?« fragte er und starrte Niobe frech an. Sie wußte zwar, daß sie älter aussah als die
Collegemädchen, und das war ja auch ihre Absicht, dennoch übertrieb er. Es war der Student mit
der Flasche, der auch die Anzeichen eines Rauschs aufwies. Während er innehielt, hob er die
Flasche und nahm einen weiteren Schluck. Ein Tropfen der fahlroten Flüssigkeit lief ihm seitlich
am Kinn herunter; dann senkte er die Flasche und rülpste.
»Wahrscheinlich die Mutter von irgendeinem«, witzelte ein anderer Jugendlicher. O das tat weh,
aus einem geheimen Grund, den sie niemals preisgegeben hätte.
»He, wessen Mutter bist du denn?« fragte der erste, offensichtlich der Anführer.
»Niemandes«, erwiderte Niobe verkniffen. »Ich bin Cedrics Frau.«
»Seine Frau!« rief der Junge. »Er hat uns nie etwas davon erzählt, daß er auf Beutezug im
Altenheim war! Er hat immer behauptet, daß seine Frau schön wäre!«
Und alle vier lachten grob.
Niobe versuchte, ihre Sticheleien zu ignorieren, in der Hoffnung, daß sie dann fortgehen würden.
Doch der Wein verlieh ihrer Frechheit Beharrlichkeit. Sie scharten sich enger um sie, und ihr
weingetränkter Atem verpestete die Luft.
»Bitte gehen Sie«, sagte sie schließlich.
»Aber wir sind doch gerade erst gekommen!« sagte der Anführer mit der Flasche. »Und außerdem ist
das hier unsere Unterkunft! Komm
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