Inkarnationen 03 - Des Schicksals duenner Faden - V3
halten.
»Lassen sie ihn«; sagte sie. »Ich liebe ihn, ich will ihn nicht länger leiden sehen.«
Sie küßte die reglosen Lippen ihres Mannes, benetzte sein Antlitz mit ihren Tränen und wandte
sich ab.
»Ich hoffe, daß du im Himmel die Freude findest, mein süßer Junge«, flüsterte sie. »Und daß ich
mich dir dort anschließen kann, wenn ich meine Aufgabe hier erledigt habe.«
*
Sie begab sich zum Hof des Vetters Pacian, wo Junior schon seit einigen Tagen untergebracht
war. Junior erblickte sie und brach in Tränen aus. Weinend hob sie ihn auf und drückte ihn an
sich.
»Laß ihn uns bald wieder hier besuchen«, sagte Pacian und kämpfte selbst mit den Tränen.
Das neuerliche Stillen bekam Junior nicht. Niobe begriff, daß ihre Milch von ihrer Trauer
vergiftet war. Also mußte sie wieder einen Zauber zum Abstillen verwenden und ihn mit der Flasche
großziehen.
Sie nahm an der Nachtwache für Cedric teil und lächelte pflichtbewußt, doch sie hatte keinen Sinn
für Festlichkeiten. Das Gespenst hielt sich schwebend in der Nähe des Leichnams auf, es zögerte,
vor dem Begräbnis fortzugehen, trotz der brennenden Kerze und des rituellen Verzehrs von
Brot.
Niemand konnte es zum Fortgehen bewegen, bis Niobe selbst sich ihm entgegenstellte und voller
Tränen Rechenschaft forderte. Da schwebte das Gespenst auf sie zu, berührte ihre feuchten Wangen,
schüttelte den Kopf, küßte sie und verblaßte.
Nun war es vorbei, und das Leben lag leer und trostlos vor ihr. Sie machte sich daran, Cedrics
Pläne nach Kräften zu erfüllen. Sie unterhielt sich mit dem Professor, um festzustellen, ob es
möglich sei, einen Zauber zu entwickeln, mit dessen Hilfe das Rotwild zurückschießen konnte. Doch
er erwiderte, daß eine solche Magie seine Fähigkeiten übersteige. »Der Magier, der dies
vollbringt, wird ein Meiser sein«, sagte er.
Immerhin bewirkte Cedrics Tod auch etwas Gutes. Zwar hatte sich herausgestellt, daß der Verdacht,
die Baufirma hätte einen Meuchelmörder angeheuert, ungerechtfertigt gewesen war, doch war die
allgemeine Stimmung in der Gegend nun derartig heftig gegen das Projekt, daß alle Bebauungspläne
aufgegeben wurden. Vielleicht hatte Cedric gewußt, daß dies ein Nebeneffekt seines Opfers sein
würde.
Es gab eine Lebensversicherung, die sie nach Cedrics Tod für eine Weile finanziell ohne Sorgen
dastehen ließ, doch kehrte sie wieder zu ihren Webarbeiten zurück und stellte prachtvolle
Teppiche her, die sie verkaufte. Sie hielt sich beschäftigt; wenngleich sie während der beiden
Jahre, die Cedric das College besucht hatte, die meiste Zeit allein verbracht hatte, war es nun
nicht mehr dasselbe. Damals war die Einsamkeit vorübergehend gewesen, jetzt dagegen war sie von
Dauer. Ihr war, als befände sie sich in einem Tunnel, an dessen Ende kein Licht leuchtete.
Immer öfter dachte sie über ihre Reise ins Fegefeuer nach. Sie war den fünf Inkarnationen
begegnet - Wesenheiten, an die sie vorher kaum geglaubt hatte. Hier auf Erden war es kein
wirkliches Leben für sie. Selbst Junior wäre besser bei der Familie seines Vetters aufgehoben
gewesen, das wußte sie. Er war ihr Kind, sie liebte ihn. Doch hegte sie keinerlei Illusionen über
das Leben, das sie ihm, allein wie sie war, auf lange Sicht bieten konnte.
Sie begab sich zu der Wassereiche, setzte Junior ab, damit er mit der Hamadryade spielte, und
erforschte das Gebiet in der Nähe, wo sie aus Gäas Heim hervorgetreten war. Wie erwartet, fand
sie nur Strauchwerk vor. Die Magie kam nur von der anderen Seite. Auf diese Weise würde sie nicht
ins Fegefeuer gelangen.
Doch was hätte sie dort auch tun sollen? Cedric war ja auch nicht im Fegefeuer. Dort wäre sie
ebenso einsam wie hier auf der Erde. Sie blickte ihr Baby an, das nun, von dem stummen Wiegenlied
der Dryade eingelullt, schlief. Natürlich war sie nicht völlig allein; sie hatte immer noch
Junior. Er war von Cedrics Blut, das war ihr ein gewaltiger Trost. Aber er war nur ein
Säugling.
Als die Tage vergingen, verstärkte ein anderes Gefühl sich in ihr, das Verlangen, sich an dem
wahren Verursacher ihres Leids zu rächen: an Satan. Sie suchte nach Möglichkeiten, um ihren
Schwur in die Wirklichkeit umzusetzen. Die Inkarnation des Bösen hatte danach getrachtet, sie zu
töten, statt dessen jedoch hatte sie ihr Glück zerstört. Sie wußte, daß Cedric, wenn sie es
gewesen wäre, die hätte sterben müssen, nach dem Schuldigen gesucht hätte, auch wenn die
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