Inkasso Mosel
überraschte Walde so sehr, dass er den Mund weit aufriss und sein Gesicht einen dümmlichen Ausdruck annahm, während der Präsident auf die Herrenarmbanduhr starrte, die Walde am linken Handgelenk trug.
»Na hören Sie mal«, wehrte sich Walde. »Solche Handbewegungen gehören nun aber wirklich nicht zu meinem Repertoire.«
Zum Abschied brachte Stiermann nicht einmal das gewohnte ›See You‹ über die Lippen.
*
Noch bevor Walde sie zur Rede stellen konnte, schlüpfte Gabi in den Fahrstuhl und fuhr in den Keller. Am Schießstand ballerte sie das Magazin leer. Dann lud sie nach und feuerte nochmals sechs Kugeln ab. Bei jedem Schuss brüllte sie: »Arschloch!«
Sie hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, den Lärmschutz anzulegen. Jetzt klingelte es in ihren Ohren, als habe sie einen akuten Hörsturz erlitten. Vielleicht war es ja auch einer. Sie steckte sich eine Zigarette an und drückte den Knopf, um die Pappscheibe heranzubefördern. Zehn Kugeln waren im Ziel, zwei hatte sie nach oben verrissen. Sie inhalierte den Rauch tief in die Lunge, bevor sie ihn durch die Nase ausstieß. In welche Kneipe sollte sie einen Schnaps trinken gehen? Sie warf die frisch geladene Pistole in die Handtasche zurück. Der Lauf war noch heiß.
Oben in ihrem Büro schloss sie sich ein und ließ sich mit dem Oberlandesgericht in Koblenz verbinden.
»Ich hatte gestern in der Uni leider keine Zeit.« Gabi legte die Füße auf den Schreibtisch und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
»No problem.« Holger Schaffreck hörte sich erfreut an. »Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.«
»Wann sind Sie wieder hier in Trier?«
»Kommenden Donnerstag hab’ ich zwei Vorlesungen.«
»Erst nächste Woche?«
»Wenn Sie nicht bis dahin warten wollen, dann kommen Sie mich doch auf meiner Ranch in Hatzenport besuchen.«
»Wo liegt das denn?«
»Das erkläre ich Ihnen dann.«
*
Auf der Straße vor dem Präsidium trat Walde gegen ein hohles Computergehäuse, das neben dem Müllcontainer stand. Wie konnte er sich nur in diese Schmierenkomödie mit der Bildzeitung reinziehen lassen? War Stiermann so blöd oder wollte er wirklich auf Gabis Linie einschwenken, die Geschichte mit dem Stinkefinger als Fälschung abzutun? Walde beschleunigte seine Schritte, um Distanz zwischen sich und diese blöde Geschichte zu bekommen.
In der Johannisstraße hielt die dichte Bebauung den kalten Wind weitgehend ab. Dennoch schmerzten Waldes Ohren bereits wieder. Er musste sich erst an die Kälte gewöhnen. Vor ihm rangierte eine junge Frau ihren Kinderwagen aus einer schmalen Ladentür auf den Bürgersteig. Walde blieb stehen, um sie vorbeizulassen. Im Netz des Wagens steckte eine Tüte ohne Beschriftung und auf der Ablage zwischen den Rädern standen zwei prall gefüllte Stoffbeutel. Die Frau vermied den Blickkontakt mit ihm. Als er neben dem Geschäft angelangt war, sah er, dass es keine Schaufensterdekoration gab. Nur ein kleines Schild an der Tür wies auf zwei kurze Öffnungszeiten pro Woche hin. Ein Sozialdienst gab hier kostenlos Lebensmittel weiter, die bei Supermärkten aussortiert worden waren. Walde war bekannt, dass die Kundschaft der, Tafel’ , so nannte sich die Einrichtung, in dem Maße wuchs, wie sich die wirtschaftliche Lage in der Stadt verschlechterte.
Aus alter Gewohnheit verließ er den breiten Fußweg hinter dem Stadttheater und ging über unebene Rasengittersteine und Kellerroste direkt am Gebäude entlang in Richtung des Personaleingangs. In einem unter dem Straßenniveau gelegenen Raum des Theaters probte ein Streicherquintett. Schon als Schüler hatte Walde auf seinem Heimweg hier stets einen kleinen Umweg gemacht, um durch das Oberlicht einen Blick in die Proberäume zu erhaschen, wo oft das Ballettensemble tanzte. Er fühlte bei seinen immer nur wenige Sekunden währenden Beobachtungen, dass er etwas sah und hörte, das nur ihn allein als Zuschauer hatte. Nie hatte er sich als Schüler getraut, stehen zu bleiben. Zu mehr als lediglich seine schon damals schnelle Gangart zu drosseln, fehlte ihm der Mut.
Diesmal blieb er stehen und drehte dem Fenster den Rücken zu. Auf dem Fußweg pendelten Menschen zwischen Rathaus und den Bushaltestellen am Rande der Fußgängerzone. Auffallend viele Frauen mit Kinderwagen, manche mit einem weiteren Kind an der Hand, waren darunter. Wahrscheinlich verband die ein oder andere allein erziehende Mutter heute Morgen den Gang zum Sozialamt mit dem Besuch der Lebensmittelausgabe in der
Weitere Kostenlose Bücher