Inkubus
Ramondi besessen?«
Amaldi schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht …«, sagte er leise.
»Die ganze Sache stinkt«, sagte Frese.
»Ja«, stimmte ihm Amaldi zu. »Aber die Frage bleibt immer die gleiche: Angenommen, er ist tatsächlich unser Mann … hat er den Lehrer und den Zahnarzt wirklich getötet, nur um Primo Ramondi etwas anzuhängen?«
Palermo erwachte mit tränenüberströmtem Gesicht und einem Gefühl der Beklemmung in der Brust. Nackt in einem leeren Bett, die Wohnung lag im Dunkeln. Sein Atem ging stoßweise. Er weinte. Nach so vielen Jahren weinte er wie ein kleiner Junge.
Er erinnerte sich an die Nacht, in der er beschlossen hatte, sich umzubringen. Als er sich über eine Brüstung gebeugt und das stehende Wasser des Hafens unter sich gesehen hatte, das nur einen tödlichen Sprung von ihm entfernt war, hatte er sich entschlossen hineinzuspringen. Er hatte sein Ende schon vor sich gesehen: Wind in den Haaren und ein Körper, der sich im Fall auflöst. So leicht wie der Flug eines Schmetterlings. Und genauso kurz wie dessen Leben war sein eigenes, in dem nicht einmal genug Zeit geblieben war, sich eine Vergangenheit zu schaffen. Ein Leben, das keine Zukunft hatte. Das nur in der Gegenwart, im kurzen, intensiven Erleben des Augenblicks existierte. Ein Sprung ins Nichts wäre eine Zusammenfassung seines ganzen Lebens. Sein letztes Leben, die endgültige Verwandlung. Trunkenheit. Tod. Er spürte schon, wie sich in jener Nacht die Schwingen des Todes über ihm ausbreiteten. »Willst du es tun?«, hatte plötzlich Luz’ Stimme hinter ihm gefragt und sich in sein düsteres Schweigen gedrängt. Es war Zufall gewesen. Oder ein Wunder. Oder vielleicht ein grausamer Scherz des Schicksals. Oder auch alles zusammen.
Palermo trocknete sich die Tränen mit einem Zipfel des weißen Bettlakens ab. Dann lauschte er. Er beugte seinen Kopf zu seiner Mitte, zu seinem Bauch vor. Nein, sie sprachen nicht. Der Albtraum hielt die winzigen, Fleisch von ihrem Fleisch fressenden Jungen gefangen. Sie schwiegen, denn in der Wirklichkeit hatten sie keine Stimme. Wenn er nicht mehr einschlief, würde er sie auch nie wieder hören.
Es klingelte. Palermo blieb im Bett liegen. Es klingelte wieder, dann klopfte es an der Tür. Palermo stand auf und ging durch die kleine, in Dunkel gehüllte Wohnung zur Tür. Draußen hinter den stark verschmutzten Fensterscheiben tobte der Lärm der Stadt. Er schaute durch den Türspion.
»Mach bitte auf«, sagte Luz.
Palermo sperrte auf, drückte die Klinke herunter und ließ das Schloss aufschnappen. Er lehnte die Tür an und kehrte nackt ins Bett zurück. Dann sah er einen Lichtstrahl. Die Tür öffnete sich langsam. Er hörte, wie das Holz mit einem satten Ton in den Rahmen zurückglitt, dann war es wieder dunkel. Leise Schritte näherten sich. Kleider glitten raschelnd zu Boden.
»Nein, Luz«, sagte Palermo.
Eine Metallschnalle schlug schwer gegen etwas, dann folgte das schabende Geräusch eines Ledergürtels, der sich auf dem Boden zusammenrollte wie eine zischelnde Schlange.
»Tu es nicht, Luz«, sagte Palermo noch einmal.
Die Decken wurden angehoben, die Laken raschelten, die Matratze gab unter dem Gewicht des anderen Körpers im Bett nach.
»Ich möchte dir nur nahe sein, Ferrante«, flüsterte Luz im Dunkel und presste sich an ihn. »Bitte nimm mich in den Arm.«
Luz’ Körper war kalt, so kalt wie Eis. Palermo legte seine Arme von hinten um ihn und empfing ihn wie in einem Nest, streichelte ihm über die Haare.
So verharrten sie lange, wärmten einander in einer keuschen, nackten Umarmung.
»Ich habe das von Primo gelesen«, sagte dann Luz.
Palermo antwortete nicht.
»Du hast ihn gefunden«, sagte Luz wieder. »Du hast ihn gefasst.«
Palermo schwieg.
»Hast du ihm wehgetan?«, fragte Luz dann.
»Nein …«, sagte Palermo.
»Danke …«
Palermo strich ihm zärtlich über die Haare. Und unter den weichen wie Seide raschelnden Strähnen streichelte er über die dicke, wulstige Narbe. Wieder strömten ihm Tränen über die Wangen.
Luz hörte, wie sie auf das Kissen tropften. Er erinnerte sich an eine Geschichte. Eine Geschichte, über die sie seit jenem Tag damals nie gesprochen hatten. Ihre Geschichte. Ihr schreckliches Geheimnis. Eine Geschichte, die sich nun aus Ferrantes Augen löste wie das Wasser eines Sees, das allmählich in die Erde versickerte, und ihn innerlich austrocknete.
»Möchtest du darüber reden?«, fragte er ihn.
»Nein …«
Ferrantes Hände
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