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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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eine bestimmte Ahnung hatte, beschäftigte er sich in seiner Freizeit damit. Die gesammelten Beweise und seine Schlussfolgerungen hatte er letztlich immer unter der Hand dem Kollegen zukommen lassen, der sich offiziell mit dem Fall beschäftigte. Palermo strebte nicht nach Verdienstorden oder Beförderungen. Doch seltsamerweise machte er sich dadurch nur noch unbeliebter bei den anderen Ermittlern. Was seine Vorgesetzten veranlasste, ihm diese Vorgehensweise ebenfalls anzukreiden.
    Dann war etwas geschehen. Und Palermo hatte sich verändert.
    Von diesem Moment an schien es Amaldi, als würde er in der Akte eines völlig anderen Mannes lesen. Vor zwölf Jahren war bei der jährlichen ärztlichen Untersuchung eine massive Dosis von Aufputschmitteln, von Amphetaminen, in seinem Blut festgestellt worden, woraufhin er vom Dienst suspendiert wurde. In den folgenden Jahren wurde er noch drei weitere Male suspendiert, wegen psychischer Labilität, Insubordination und schließlich wegen der nie bewiesenen Korruptionsvorwürfe. Die nun schon wieder zurückgenommene Suspendierung wegen schwerer Körperverletzung und Amtsmissbrauchs im aktuellen Fall Primo Ramondi war noch nicht zu den Akten genommen.
    »Was ist nur passiert mit dir?«, fragte sich Amaldi.
    Es war immer die gleiche Szene. Ein dunkler Kellerraum, feucht und warm wie ein düsterer, stinkender Bauch. Das Echo der Schüsse. Die Männer, die tot zu Boden fielen und verbluteten. Es war immer die gleiche Szene.
    Aber plötzlich bemerkte er eine Wunde, die sich bewegte und sich ausdehnte, als ob unter der Haut etwas zappelte. Sein Blick wanderte zu den Verletzungen der anderen toten Männer dort auf dem Boden. Und jede dieser Wunden zog sich zusammen und dehnte sich aus, in einem regelmäßigen, sich allmählich steigernden Rhythmus. Jede Öffnung zog sich zusammen – woraufhin der Blutfluss kurz versiegte – weitete sich – und das Blut quoll wieder zäh und klebrig hervor –, bis endlich alle Wunden sich auf einen wilden, aufpeitschenden Takt geeinigt hatten, als ob sie viele Münder einer einzigen Lunge, viele Herzen einer einzigen Gebärmutter wären. Schließlich brachte jede dieser Wunden ein Neugeborenes umschlossen von einem abscheulichen durchsichtigen Stück Gewebe hervor. Genauso viele winzige Säuglinge wie Wunden. Es waren nur Jungen. Ihre Hände zerrten die Gebärmutter, die sie gefangen hielt, auseinander und ihre Zähne – denn sie hatten spitze Fangzähne wie Raubtiere – gruben sich hinein und zerfetzten sie. Sie verschlangen Fleisch von ihrem Fleisch, all die Gebärmütter, die sie umhüllt und geschützt hatten und auf denen das Blut der toten Männer klebte, das jetzt träge herunterrann.
    Dann stellten die nackten Kinder – die bereits laufen konnten – sich im Kreis auf, hielten sich bei den Händen, und er sah, wie sie miteinander sprachen, aber er hörte ihre Stimmen nicht, konnte die Worte nicht einmal von ihren Lippen ablesen. Sie sprachen immer nur ein und denselben Satz, den er nicht verstand, aber er sah, wie ihre zarten, rosigen Lippen sich im Gleichklang öffneten und schlossen wie die Blütenblätter einer Kamelie. Ein kurzer Satz, bestehend aus wenigen, schnellen Silben. Ta ta ta . Kurze Pause. Dann wieder diese Folge von unverständlichen Silben. Ta ta ta . Die Kinder drehten sich zu ihm um. Ta ta ta . Sie starrten ihn jetzt an, flüsterten ihm den Satz zu, kamen immer näher. Winzige nackte Jungen. Ta ta ta . Sie sprachen zu ihm, aber er konnte sie nicht hören. Am liebsten wäre er davongelaufen. Ta ta ta … ta ta ta … ta ta ta .
    Er öffnete den Mund weit, um einen Schrei auszustoßen, um diesen unhörbaren Klang zu übertönen, denn bald würde er ihn verstehen, das wusste er nun. Er öffnete den Mund, denn er wollte gar nicht wissen, was diese winzigen nackten Jungen sagten, die ihr eigenes Fleisch und Blut verschlangen. Er machte den Mund auf, und eines der Kinder schnellte hoch, schlüpfte zwischen seine Lippen und glitt seine Kehle hinunter. Und ein anderes Kind kletterte geschwind wie eine Ratte an seinem Bein hoch und kroch in sein Ohr. Und so ging es weiter, bis alle Kinder durch Augen, Nase, Mund, Ohren in ihn eingedrungen waren. Sie enterten ihn, machten sich in ihm breit und skandierten in seinem Inneren die Tonfolge – ta ta ta –, die sich allmählich in einen verständlichen Satz verwandelte. Zu dem Satz wurde, den er gar nicht hören wollte. Bis sein ganzer Körper und seine Seele im Takt dieser

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