Inkubus
der viel früher als wir wusste, wer der Mörder ist.«
»Palermo?«
»Palermo«, bestätigte Amaldi. »Ich brauche zwei Haftbefehle. Einen für Kreutzer und den anderen für Ispettore Capo Ferrante Palermo.«
»Damals vor zwölf Jahren, dieses Blutbad … das kann nicht der Junge gewesen sein«, sagte Frese.
»Nein, er war es auch nicht …«, meinte Amaldi seufzend und stand auf. »Holen wir ihn uns.«
»Da gibt es ein Problem …«, meldete sich Max zu Wort. »Nachdem er aus dem Heim verschwunden ist, haben sich Dejan Kreutzers Spuren verloren.«
»Palermo weiß alles«, erwiderte Amaldi. »Er wird uns schon sagen, wo er zu finden ist …«
Im Dover Beach kannte niemand einen Dejan Kreutzer. Als allerdings Frese erwähnte, dass er wahrscheinlich eine Narbe hatte – das einzige Kennzeichen, das sie dem Mörder zuschreiben konnten –, war Amaldi aufgefallen, dass der fette Besitzer des Lokals kurz zusammenzuckte. Nur einen Moment lang, gerade so lange, um einem seiner Rausschmeißer einen warnenden Blick zuzuwerfen. Das war alles. Er hatte sich von ihren Drohungen nicht einschüchtern lassen. Hatte nicht geredet.
Amaldi hatte zwei Beamte als Wache vor dem Dover Beach postiert.
Von Palermo fehlte jede Spur. Seit drei Tagen hatte er sich weder bei der Sitte sehen lassen, noch hatte er seinen Kollegen Bescheid gesagt, wo er zu erreichen sei. Er war ganz einfach verschwunden. Amaldi hatte Palermos Vorgesetzten in Alarmbereitschaft versetzt und zwei weitere Beamte bewachten seine Wohnung in der Altstadt.
»Hilft Palermo dem Mörder?«, hatte Frese gefragt.
»Ich glaube, er hat ihm schon einmal geholfen … Als er ein Junge war«, hatte ihm Amaldi geantwortet.
»Was tun wir jetzt?«, hatte Frese nachgehakt.
»Wir warten bei Boiron auf ihn.«
Der Raum war von Dunkelheit erfüllt.
Primo Ramondi kauerte noch immer unter dem Waschbecken. Es roch nach Desinfektionsmitteln und Bleiche. Es war weiß. Tröstlich und vertraut. Er streichelte die Keramik. Schloss die Augen und lehnte die haarlose Wange an die kalte Oberfläche.
»Willst du mich küssen?«, fragte ihn der Junge.
Sein Kopf war im Waschraum des Heims gefangen. Dies war der Moment, in dem er seine Geschichte umschreiben musste. Er sah die Wunde des Jungen, der für ihn blutete. Sah, wie sich das weiße Licht des Mondes mit Blut befleckte. Und spürte wieder die Erregung jener Nacht. Merkte, wie sein Herz klopfte.
»Ja …«, gab er dem Jungen zur Antwort, zum ersten Mal laut, ohne Angst, ohne Scham zu fühlen.
Er öffnete seine Lippen und drückte sie an das Waschbecken.
Er spürte, dass er sich der Liebe hingeben konnte. Wusste, dass er zu jemandem gehören konnte.
»Willst du mich küssen?«, fragte ihn der Junge noch einmal und bot ihm seine Lippen an, die so zart und rosig waren wie Blütenblätter.
»Ja«, antwortete Primo wieder, diesmal lauter, und presste seinen zahnlosen Mund gegen die kalte Keramik, die nach Sauberkeit und Bleiche roch. »Ja …«, wiederholte er und küsste den Jungen.
Seine Geschichte begann noch einmal. Von vorn.
Dann stand der Junge auf, kniete sich hin, knöpfte die Jacke seines himmelblauen Schlafanzugs auf und beschmierte sich den Körper mit seinen langen schmalen Fingern, die wirkten wie Stängel, an deren Enden tiefrote Blüten sprossen, mit Blut.
Primo lachte, er selbst war wieder ein Junge, tauchte in das Blut ein, und indem er das kalte Porzellan umklammerte, gab er sich der ersten Umarmung seines Lebens hin.
»Willst du es tun?«, fragte ihn der Junge.
Primo öffnete die Augen.
Der Raum lag in Dunkelheit versunken.
»Ich kann nicht …«, schluchzte er. »Ich kann … nicht …«
Die Geschichte war tot. Von neuem tot.
Seine Albträume krochen über den dreckigen Boden seiner Zelle. Er folgte ihnen mit den Augen. Beobachtete, wie sie an den abgeblätterten Wänden emporkletterten. »Schau hin«, flüsterten sie.
Und Primo sah ihn in der Dunkelheit leuchten.
Einen Stahlhaken.
Ängstlich streckte sich seine Hand nach dem Bett, in dem er nie geschlafen hatte. Er holte sich das weiße Laken, bevor er sich wieder unter dem Waschbecken verkroch.
Er sah den Haken in der Dunkelheit glänzen. Dort oben. Nahe an der Decke.
Streifen für Streifen zerriss er das Laken.
Auf seinem zahnlosen Mund lag ein Lächeln.
Er wirkte beinahe glücklich.
Luz saß allein auf der Terrasse, die nächtliche Dunkelheit vor sich.
Er ließ die Klinge seines Messers hervorschnellen. Holte die Geldscheine aus der rechten
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