Inkubus
sagen Sie da?«, fuhr ihn Frese an. »Einem schält er die Augen raus, dem anderen näht er den Mund zu und reißt ihm den Schwanz ab, dem dritten schneidet er die Zunge ab. Allen dreien renkt er den Kiefer aus, erhält sie drei Tage am Leben und als Krönung des Ganzen steckt er ihnen dann einen Apfel in den Mund, als wären es gebratene Spanferkel …«
»Nicola, lass ihn doch ausreden«, unterbrach ihn Amaldi.
»Also, ich wollte damit nur sagen …«, fuhr der Arzt fort, »dass … Ach, ich weiß auch nicht … Ich glaube einfach nicht, dass der Mann das alles gern tut. Er tut das, weil … er es tun muss. Aber das sind bereits Schlussfolgerungen, und ich möchte Ihnen nicht vorgreifen, Commissario.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, erklärte Amaldi. »Ich bin zu den gleichen Schlüssen gekommen. Der scheinbare Sadismus ist … nur ein notwendiges Übel … Wie soll ich sagen? … Wegen des dramatischen Effekts.«
»Der grundlegende Unterschied zu den anderen Opfern ist, dass er den Mann diesmal nicht drei Tage am Leben erhalten hat …«, fuhr der Arzt fort. »Es ist zwar nur eine ungefähre Schätzung … aber ich glaube, es sind nicht mal zwei Tage gewesen …«
»Er ist müde«, sagte Amaldi.
Frese sah ihn fragend an: »Er ist müde?«
»Ja, das ist mein Eindruck …«
»Wie kommst du darauf?«
Amaldi schüttelte nur wortlos den Kopf, als wäre er in Gedanken schon ganz woanders.
»Meinst du etwa damit, er gönnt sich demnächst eine Auszeit?«, bedrängte ihn Frese.
»Nein. Aber diese Hinrichtung ist schiefgelaufen … Er hat sich verkalkuliert, meine ich … Das ist bestimmt kein Zufall, und wir dürfen das nicht einfach als Versehen abtun. Es ist doch mehr als offensichtlich, dass das Körpergewicht eines Mannes allein niemals ausreichen würde, um ihn zu enthaupten. Unbewusst wollte er … dass sein Plan fehlschlug. Er hat sich mit aller Willenskraft an seine Mission klammern müssen. Weil irgendetwas davor schon schiefgegangen ist … Weil seine Inszenierung nicht den erhofften Erfolg hatte … Wahrscheinlich gehe ich hier zu weit, aber wenn ich recht habe … könnte er demnächst noch weitere Fehler begehen …«
Der Gerichtsmediziner ging zur Tür des Obduktionssaals, Amaldi und Frese folgten ihm.
»Warum fand diese Hinrichtung ohne Zeugen statt?«, fragte sich Amaldi laut, während er den Kittel auszog und ihn in einen Aluminiumbehälter warf. »Was hat das zu bedeuten?«
»Es wäre viel zu aufwändig gewesen, noch so ein großes Ding zu inszenieren«, sagte Frese. »Oder er hat jetzt einfach die Schnauze voll … such dir was aus.«
»Oder ihm fehlt jetzt nur noch Boiron … der Papa «, fügte Amaldi hinzu. »Wir müssen eine Rundumüberwachung für ihn organisieren.«
Luz fror. Und er war allein.
Die Tauben waren aufgeflogen, als er die Tür zur Terrasse quietschend geöffnet hatte. Als sie ihn erkannten, hatten sie sich wieder beruhigt und weitergeschlafen, eng aneinandergeschmiegt, um sich gegenseitig zu wärmen.
Luz hatte Ferrante gesucht. Seinen Ferrante. Doch er hatte ihn nicht gefunden. Er war weder zu Hause noch im Dover Beach . Luz hatte ihn nicht mehr gesehen seit dem Tag, an dem er sich zu ihm ins Bett gelegt hatte. Das war vorher noch nie passiert. Und nun musste er diese Nacht allein überstehen.
Als Ferrante an diesem Morgen vor drei Tagen aufgestanden war, hatte Luz etwas empfunden, das er lange nicht mehr erlebt hatte. Das er vergessen hatte. Etwas, das ihn in die Vergangenheit zurückversetzt hatte. In die dunklen Tage vor dieser Nacht seiner Befreiung, als er neu geboren wurde. Dieses bedrückende Gefühl, schmutzig zu sein. Dass er selbst dieses Schreckliche, das sich in den Erwachsenen verbarg, zum Leben erweckte. Dass er es provozierte. Er selbst sie mit seinem kleinen Körper dazu aufforderte, das zu tun, was sie ihm antaten. Er sie mit seinem schmutzigen, sündigen Körper in Monster verwandelte.
Ferrante war plötzlich aus dem Bett aufgestanden und gegangen und blieb seitdem spurlos verschwunden. Er hatte ihn verlassen. Weil Luz schmutzig war. Weil niemand, nicht einmal Ferrante, jemanden lieben konnte, der so abgrundtief verdorben war.
Vor vielen Jahren war im Heim, der sogenannten »Förderanstalt für sozial benachteiligte Kinder«, ein knapp dreizehnjähriger Junge auf ihn zugekommen und hatte ihn bedroht. Hatte versucht, ihm einen Schreck einzujagen. Und der kleine, einsame Luz hatte sich erschreckt. In der Nacht hatte er auf ihn gewartet, das Herz
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