Inkubus
und schaute wieder zum Wohnzimmerfenster hoch. An der Decke des Raumes zuckten bläuliche Schatten und Lichter. Sie sah also fern. Vielleicht wie jede andere Ehefrau, die auf die Heimkehr ihres Mannes wartete.
Im Gericht war Boiron als unerbittlicher Richter bekannt. Er ließ niemandem gegenüber Nachsicht walten, machte weder für hohe Tiere noch arme Würstchen Ausnahmen. Blieb Verbrechern gegenüber genauso hart wie gegenüber Amtsträgern. Er war ein Inquisitor, ein Sittenrichter. Er suchte nach dem Bösen, gab sich aber auch mit einem unbedeutenden Fehltritt zufrieden. Entdeckte er menschliche Schwächen, ging er gnadenlos dagegen vor. Diese unbeugsame Haltung entsprang einer angeborenen strengen Moral des Richters, aber es war allgemein aufgefallen, dass seine Härte beinahe krankhafte Züge angenommen hatte, seit er mit dieser jungen attraktiven Schreibkraft verheiratet war. Boiron wusste genau, dass alle von seiner Frau dachten, sie habe sich hochgeschlafen. Im Grunde hatten sie damit sogar recht. Gerüchten zufolge hatte sie in den Betten von vielen bedeutenden Männern, meistens Richter, gelegen, ehe er sie geheiratet hatte.
Das hatte er vom ersten Moment an gewusst, als er ein Auge auf sie geworfen hatte, aber er hatte sich nicht gegen seine Besessenheit wehren können. Er musste die Frau haben, dieses kleine Mädchen. Sie war erst siebzehn gewesen, als er sie zum Traualtar führte. Mit ihm hatte sie nicht geschlafen, im Gegensatz zu all den anderen hatte sie ihm vor der Ehe keinerlei Zugeständnisse gemacht. Er wusste von Anfang an ganz genau, dass sie die geborene Geliebte war und keine treusorgende Ehefrau, doch seine Leidenschaft machte ihn blind. Er hatte ein Leben für sie ausersehen, das ihr vom Schicksal nicht vorherbestimmt war. Sehenden Auges hatte er sich mit dieser unnatürlichen Verbindung belastet und sie zu einer ehrbaren Frau gemacht, obwohl sie eigentlich beinahe noch ein Kind war.
Zumindest hätte er das gerne aus ihr gemacht. Und seit zwei Jahren bezahlte er den Preis dafür.
Eines Tages war sich Boiron bewusst geworden, dass er aufgehört hatte, als eigenständige Persönlichkeit zu existieren, da er nur noch durch die Augen seiner im gleichen Maße geliebten wie verachteten Kindfrau lebte. Er wusste nicht mehr, wann es begonnen hatte – vielleicht auch schon direkt am Anfang ihrer Beziehung –, aber mittlerweile hatte er sein Leben völlig in die Hände dieses kleinen Mädchens gelegt. Und wie er sich qualvoll eingestehen musste, nutzte sie das weidlich aus und missbrauchte die Macht, die er ihr selbst verliehen hatte, um ihn zu demütigen. Manchmal dachte er daran, sie umzubringen, sie einfach zu erwürgen. Und er hätte es sicher getan, hätte er sich nicht vor Gesetz und Strafe gefürchtet – ebenjenem Gesetz, das er vertrat, und jener Strafe, die er so großzügig verhängte –, zumindest redete er sich das ein, wenn ihn die Eifersucht fürchterlich quälte und sein Herz und seinen Stolz mit Füßen trat.
Kann denn so viel Hass in der Liebe enthalten sein?, fragte er sich verzweifelt.
Aber vielleicht machte genau das den Unterschied zwischen Liebe und Leidenschaft aus.
Boiron raffte sich auf und ging weiter. Einen Moment lang glaubte er auf der Dachterrasse eine Gestalt zu sehen, die sich dunkel vor dem Wald aus Fernsehantennen abzeichnete. Doch dann war sie wieder verschwunden. Der Richter senkte seinen Blick wieder nach unten auf den holprigen Bürgersteig und seufzte laut. Sie würden miteinander plaudern und lachen, dachte er wieder, dann würden sie gemeinsam zu Bett gehen und miteinander schlafen. An diesem Abend würde er seinen Mann stehen – die blaue Pille, die er vor einer Stunde geschluckt hatte, zeigte allmählich Wirkung.
Er würde sich in jeder Beziehung als guter Ehemann erweisen.
Boiron zog die Haustürschlüssel aus seiner Manteltasche und blieb kurz stehen, um die Blüten an den beiden Oleanderbüschen zu kontrollieren, die er am gleichen Tag für das Haus gekauft hatte, als er die Wohnung geerbt hatte.
Er schaute nach oben zum Wohnzimmerfenster. Von seinem Standpunkt sah er nur einen kleinen Ausschnitt.
Oben von der Dachterrasse kam ein metallisches Scharren, als ob jemand etwas über die Brüstung zerrte.
Richter Boiron trat einen Schritt zurück und legte eine Hand über die Augen, damit er nicht vom bernsteingelben Schein der Straßenlaterne geblendet würde. Er sah, wie sich irgendetwas Dunkles bewegte.
Diebe, dachte er sofort alarmiert.
Weitere Kostenlose Bücher