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Inkubus

Inkubus

Titel: Inkubus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Di Fulvio
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Während die Frau weiterweinte, knöpfte der Mann ihr behutsam die Bluse richtig zu. Dabei sagte er kein Wort.
    »Hier entlang«, rief Frese Amaldi.
    Amaldi folgte ihm ins Esszimmer. Die beiden Beamten, die das Fenster bewachten, grüßten ihn. Amaldi vermied bewusst, die Einrichtung des Zimmers wahrzunehmen. Er beugte sich aus dem Fenster, hob das kleine Tuch mit beiden Händen an, wobei er sich so davorstellte, dass niemand außer ihm den Kopf sehen konnte.
    Die Augen des Opfers standen weit offen, waren blutunterlaufen und die Pupillen nach außen gerichtet. In seinem Mund steckte ein grüner Apfel. Der Mörder hatte befürchtet, er könnte ihn ausspucken. Und um diese mögliche Panne auszuschließen, hatte er quer über die Oberlippe verteilt gebohrt sowie gegenüber an genau den gleichen Stellen in der Unterlippe. Dann hatte er die sechs Löcher untereinander mit gewöhnlichem Hanfseil verbunden, das man normalerweise als Paketschnur benutzte. Es sah aus wie ein Maulkorb. Während dies geschah, hatte das Opfer noch gelebt. Neben dem Kopf baumelte die Stahlschlinge hin und her, die ihn vom Rumpf getrennt hatte. Sie war irgendwo oben an einem festen Halt auf der Dachterrasse verankert. Amaldi würde auch dort oben nachsehen müssen. Das Seil sah aus wie eine ganz normale Wäscheleine, bei der jemand auf dem Teilstück mit der Schlinge die äußere Plastikschicht entfernt und den Metallkern freigelegt hatte. Knapp einen halben Meter über dem Kopf des Opfers war das Plastik noch intakt.
    Amaldi wurde bewusst, dass er es ganz absichtlich vermieden hatte zu untersuchen, mit welcher Vorrichtung der Kopf in der Luft gehalten wurde. Doch sie war ihm sofort aufgefallen. Beide Ohrmuscheln waren durchbohrt worden, die Löcher waren genau mittig, recht groß und kreisrund – und in jedes hatte der Mörder einen Karabinerhaken gesteckt, wie man ihn auf Segelbooten benutzt. Daran waren zwei etwa einen Zentimeter dicke Gummiseile befestigt, die in einem weiteren, etwa dreißig Zentimeter oberhalb des Kopfes angebrachten Karabinerhaken zusammengeführt wurden. Von dort aus führte ein Gummiseil hinauf zur Terrasse, die Wäscheleine verlief parallel dazu. Um ein Haarbüschel auf dem Kopf war ein dünner weißer Bindfaden geknüpft, der ebenfalls an dem Karabinerhaken oben befestigt war. Amaldi vermutete, damit sollte verhindert werden, dass der Kopf sich drehte, sobald er vom Rumpf getrennt war. Das Gummiseil diente dazu, den Ruck zu dämpfen, der auf die Enthauptung bestimmt gefolgt war, damit die Ohrmuscheln nicht einrissen oder ganz vom Kopf abgerissen würden. Die Aktion war perfekt gelungen.
    »Lassen Sie mich ein, ich bin Richter!«, schrie plötzlich jemand aufgeregt im Treppenhaus.
    Amaldi bedeckte den Kopf wieder mit dem Tuch und drehte sich um. Frese stand schon im Flur. Er ging zu ihm.
    »Im Augenblick sind Sie keine Amtsperson«, erklärte Frese Boiron gerade ziemlich aggressiv. »Sie sind ein Augenzeuge und das hier ist eine Privatwohnung.«
    »Ich werde dafür sorgen, dass Sie jede Menge Schwierigkeiten bekommen!«, drohte ihm Boiron.
    »Sie werden nichts dergleichen tun!«, schaltete sich Amaldi in gebieterischem Ton ein. »Und schreien Sie hier nicht so herum!«
    Frese war vor Wut hochrot im Gesicht. Die Hausherrin war aufgestanden, schaute zu ihnen hinüber und knetete nervös einen Zipfel ihrer Bluse. Ihr Ehemann hatte wieder das Gesicht in den Händen vergraben. Amaldi trat hinaus ins Treppenhaus.
    »Gehen wir doch in Ihre Wohnung«, sagte er zu Boiron.
    »In meine Wohnung? Auf gar keinen Fall!«, antwortete der Richter.
    »Hören Sie mal, damit tut er Ihnen einen Gefallen und nicht umgekehrt«, platzte Frese heraus.
    »Nicola, bitte …«, wies ihn Amaldi zurecht.
    Boiron sah beide mit selbstgefälliger Überheblichkeit an. Daraufhin wandte sich Amaldi wieder dem Richter zu.
    »Sie können es sich aussuchen«, meinte er, den Ärger in seiner Stimme unterdrückend. »Bei Ihnen oder auf dem Revier.«
    »So können Sie mich nicht …«, begann der Richter mit einem arroganten Lächeln auf den Lippen.
    »Kann ich sehr wohl«, unterbrach ihn Amaldi kurz angebunden.
    Die Beamten auf dem Treppenabsatz wurden Zeugen, wie Boiron vor Wut blaurot anlief. Dann wandte er sich abrupt um, öffnete die Tür zum Aufzug und schlüpfte hinein.
    »Also gut«, knurrte er.
    Amaldi und Frese folgten ihm. Während sie in den vierten Stock hinauffuhren, hörten sie die Beamten im Treppenhaus kichern. An der Tür zu seiner Wohnung

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