Innere Werte
Kopf hin und her. »Da war so was in ihrer Stimme, was mich stutzig gemacht hat.«
»Aha. Ihre Stimme also.« Milster zog die Augenbrauen nach oben. »Kommen wir zu greifbaren Dingen. Haben Sie inzwischen den Todestag rekonstruiert?«
»Am Todestag fuhr das Opfer mit dem Taxi zum Wiesbadener Bahnhof. Wir wissen nicht, ob er ein Bahnticket gekauft hat. Wenn ja, wären Verbindungen zwischen zehn und elf Uhr nach Frankfurt, Hanau, Neuwied, Niedernhausen und Aschaffenburg möglich. Das sind meist S-Bahnen oder Nahverkehrszüge. Diese Fahrstrecken wiederholen sich quasi alle Stunde. Nur die Fernzüge, ICE und so, wechseln. Aber ich denke, es ist eher unwahrscheinlich, dass er weiter weg fahren wollte.«
»Wenn er überhaupt vorhatte, irgendwohin zu fahren«, gab Michael zu bedenken. »Vielleicht war der Bahnhof nur ein Treffpunkt.«
»Richtig! Wir wissen also nur, dass er um zehn am Bahnhof war, aber nicht, warum. Den Todeszeitpunkt hat Stieber auf zirka dreizehn Uhr plus minus zwei Stunden festgelegt. Also weit kann er da nicht gefahren sein, es sei denn, er wurde ganz woanders ermordet und dann tot nach Wiesbaden zum Kanalschacht gebracht. Aber das wäre ein untypisches Verhalten. Merkwürdig ist auch, dass er, wie seine Freundin behauptet, sonst nie Taxi gefahren ist. Also war an seinem Todestag irgendetwas anders.«
»Ich habe das Gefühl«, meldete sich Dieter zu Wort, »dass seine Freundin nicht so genau weiß, was er tagsüber getrieben hat, wenn sie arbeiten war.«
»Dein Gefühl basiert vielleicht auf der Tatsache, dass sie nichts sagt. Das bedeutet noch lange nicht, dass sie nichts weiß.« Paul verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich zurück.
»Da bin ich mir auch noch nicht schlüssig«, nickte Martin bestätigend. »Aber ich habe eher das Gefühl, dass sie nicht wirklich was weiß. Sie wirkt auf mich ziemlich unsicher und gleichzeitig wütend.« Er fuhr sich wieder durch seine kurzen Haare und überlegte. Irgendetwas Außergewöhnliches war in Bielmanns Leben passiert, was wahrscheinlich auch der Grund dafür war, dass er umgebracht wurde. Aber was?
»Lassen Sie Ihre Gefühle mal beiseite«, mahnte Milster. »Erzählen Sie mir was von den Fakten.«
Martin Sandor war ein Mann, der sich gern auf seinen Instinkt verließ, aber die Fakten dabei nie aus den Augen verlor. Durch diese Kombination, gepaart mit der nötigen Leidenschaft und Akribie, hatte jeder seiner Fälle eine gute Chance auf Aufklärung. Zusätzlich hatte er sich in den letzten Monaten ausgiebig mit Verhaltensweisen von Tätern und Zeugen beschäftigt. Nachdem er im letzten Jahr eine Polizeipsychologin, die mit ihm zusammengearbeitet hatte, als Serienmörderin überführt hatte, wollte er in Zukunft nicht mehr auf einen Psychologen zurückgreifen müssen und sich nur auf eine Person verlassen. Auf sich selbst! Seiner Meinung nach waren alle Seelenklempner mindestens sonderbar, wenn nicht verrückt. Es färbt wohl ab, wenn man es nur mit psychischen Wracks zu tun hat, pflegte er zu sagen, wenn die Sprache auf das Thema kam. Und das, was man als Kriminologe diesbezüglich an Wissen brauchte, konnte sich jeder selbst aneignen. Im Grunde war die Psychologie sowieso nicht die wichtigste Hilfswissenschaft, die bei einem Mordfall hinzugezogen wurde, wenngleich er zugeben musste, dass er von den neuen Erkenntnissen sicher profitieren würde. Nach wie vor waren für ihn die Kriminalistik, Kriminologie und Soziologie die wesentlichsten Bestandteile seiner Arbeit.
Jetzt hätte Martin seinem Chef am liebsten geantwortet: Wenn ich nicht auf meine Gefühle achten würde, kämen Sie mit Ihren Fakten nicht weit. Aber er unterließ es, um keine negative Stimmung zu erzeugen und möglichst schnell hier fertig zu werden.
»Gut, die Fakten. Es scheint irgendeinen medizinischen Aspekt zu geben: Wir haben da eine Blutabnahme für einen Aids- und PSA-Test, die er selbst bezahlen musste. Das Blut hat er dann aber mitgenommen und die Untersuchungen wurden nicht gemacht. Dann wurden medizinische Fäden an Bielmanns Torso sowie im Rechengut gefunden, die auf eine Wundnaht schließen lassen.«
»Sandor, glauben Sie, es gibt einen Zusammenhang zwischen den Blutuntersuchungen, die ja gar nicht stattgefunden haben, und einem medizinischen Eingriff?«
»Irgendwie schon.«
»Ihr Gefühl, was?« Leichter Sarkasmus war aus Milsters Stimme zu hören.
»Genau.«
»Das ist doch Unsinn.« Milster ließ beide Arme gestikulierend durch die Luft fahren.
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