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Innerste Sphaere

Innerste Sphaere

Titel: Innerste Sphaere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Fine
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sich auf. »Weil es ihr tatsächlich besser geht. Sie ist nur noch nicht gesund. Das würde viel länger dauern.«
    »Wie soll es denn bitte jemandem, der akut selbstmordgefährdet ist,
besser
gehen?«
    »Weil Depressive manchmal etwas Dummes anstellen, wenn sie mehr Energie haben. Es ging ihr besser und sie hatte mehr Energie.«
    »Das leuchtet nicht ein.«
    »Doch.«
    »Wie kannst du sie auch noch verteidigen?«, brüllte ich.
    Abrupt stand er auf und sein Stuhl fiel krachend um, was mich für einen Moment verstummen ließ. »Weil ich war wie sie! Ich verstehe sie. Du verstehst sie nicht«, brummte er. »Du hast es vergessen. Du bist jetzt viel stärker, hast es weit hinter dir gelassen. Erinnere dich doch mal, Lela, was dich an diesem Abend so weit getrieben hat, dich umbringen zu wollen. Manche Menschen können einfach nicht mehr kämpfen. Sie wollen fliehen. Sie sind noch nicht so weit, sind nicht imstande, mit dem umzugehen, was vor ihnen liegt. Manchmal haben sie niemanden, der ihnen hilft. Und sie wissen nicht, wie man um Hilfe bittet. Und dann haben sie das Gefühl, sie hätten keine andere Wahl, als Schluss zu machen. Keinen anderen Ausweg. Manchmal ist es unmöglich, dahinter noch eine Zukunft zu sehen.«
    Mit einem Mal sah er nicht mehr wütend, sondern ängstlich aus – als wüsste er, dass ich ihn nach diesem Gespräch mit anderenAugen sehen würde. Einen Moment sah er zu Boden, dann holte er tief Luft und schaute mich an. »Nadia ist nicht so weit, dass sie vor den Richter treten könnte. In ihrem Zustand wird sie niemals aus der Stadt entlassen.«
    Nein. Nein. Hör auf zu sagen, was ich schon weiß.
    »Sie kann hier bleiben«, fuhr er fort. »Wir besorgen jemanden, der auf sie aufpasst, bis sie so weit …«
    »Du täuscht dich«, schluchzte ich. »Du hast doch gesehen, wie sie leidet. Sie kann nicht hier bleiben. Sie verdient Gnade. Sie verdient es rauszukommen.«
    Er sah mich mit großen Augen an und schüttelte den Kopf. Dann trat er wieder an das Feldbett und setzte sich neben mich. »Du redest von Gnade, als hätte Nadia ein Recht darauf. Als hätte sie es mit ihrem Leiden verdient. Aber so funktioniert das nicht.«
    Ich stieß die Hand weg, die er nach mir ausstreckte. »Wenn jemand Gnade verdient hat, dann sie. Sie ist ein guter Mensch, Malachi, der beste. Sie ist lieb. Freundlich. Sie hat nie etwas Böses getan!«
    Er beugte sich vor, bis sein Gesicht ganz nah an meinem war. Sein Blick war todernst. »Dann sag mir«, begann er und betonte jedes Wort mit seinem harten, präzisen Akzent, »wann in deinem Leben hast du Gnade erlebt? Hat dein Pflegevater vielleicht Gnade gekannt? Oder die Leute im Jugendgefängnis? Und was ist mit mir? Mit meiner Familie? Mit meinem Volk? Hätten wir nicht auch Gnade verdient?«
    Er lachte verbittert. »Auf Gnade hat man kein Recht. Gnade ist ein Geschenk, das man einander macht. Man kann sie nicht verdienen. Du kannst nicht behaupten, Nadia hätte mehr Recht darauf als die Millionen anderer Seelen, die hier wohnen.«
    Er wandte den Blick ab, schaute auf die Gaslampe neben meinem Bett. »Als ich herkam, war ich wohl wie Nadia. Keine Ahnung, wie lange ich hier war, bevor ich die Kurve gekriegt habe. Meine Erinnerungen an die Zeit sind ziemlich verschwommen. Aber als ich klarer im Kopf wurde, hat mich der Zorn gepackt. Ein unglaublicher Zorn. Nach allem, was ich durchgemacht, was ich durchlittenhatte, wie konnte ich da in so einer Hölle landen? Mein einziges Verbrechen war die Flucht.«
    Als ich sein Gesicht sah, so traurig und hilflos, war meine Wut sofort verflogen. Ich legte die Hand auf seinen Arm.
    Seufzend starrte er die Lampe an.
    »Wie alt warst du?«
    »Fast neunzehn.«
    »Wo warst du?«
    »Auschwitz«, flüsterte er.
    »Wie hast du es getan?«
    Er holte Atem. »Elektrozaun. Der umgab das Lager, hielt uns drinnen fest und bot für einige den einzig möglichen Fluchtweg.«
    O mein Gott.
Ich rückte näher und nahm ihn in die Arme, und wie immer lehnte er sich gegen mich. Es tat so weh, mir vorzustellen, dass er das getan hatte, aber ich wollte es trotzdem verstehen. »Warum?«
    »Ich war noch nicht lange dort gewesen. Ich war krank. Wir waren alle krank. Die Zugfahrt zum KZ hatte meinen Vater umgebracht. Er war vorher schon so schwach gewesen. Und meine Mutter, sie … Man hat sie weggebracht, sobald wir ins Lager kamen, mit den älteren Leuten und den kleinen Kindern. Aber ich hatte Heshel. Wir waren zusammen und er war stark. Er meinte, wir könnten

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