Innerste Sphaere
Turms. Es war ein kleines Plätzchen, bloß ein, zwei Meter breit, es bot nur Raum für unsbeide. Die gemauerte Brüstung war hüfthoch, im bröseligen Mörtel war zwischen den Steinen ein Eisengeländer festgemacht.
»Ich komme hierher«, sagte er leise. Ringsum hockte die stille Stadt auf ihrem Hügel und fraß das Licht. Ich drehte mich um die eigene Achse, bestimmt hatte Malachi diese Aussicht benutzt, um Teile seiner Karte zu zeichnen. Von hier aus war die Stadt leichter zu überblicken, zumindest bis mein Blick auf die Masse der Wolkenkratzer auf dem Gipfel des Hügels fiel.
Er zeigte auf die Wand aus Gebäuden. »Wir gehen weiter nordwärts. Das ist der älteste Teil der Stadt. Die Bauten … Ich weiß, es hört sich seltsam an, aber sie werden jedes Jahr höher. Die ältesten im Zentrum sind am höchsten. Die niedrigeren Häuser an der Mauer sind neueren Datums. Aber auch sie wachsen. Wenn jemand in der Stadt eines möchte, entsteht ein Haus. Auch wenn man eine Pagode oder eine Hütte oder einen Turm will, wachsen diese Gebäude. Alles, was man tun muss, ist wollen. Wünschen. Begehren. Dann nehmen die Gebäude Leben an, genährt vom Verlangen. Aber was aus diesem Verlangen entsteht, ist niemals gut. Oder befriedigend. Nur … groß. Also wächst die Stadt und mit ihr das Elend. Wie eine Krankheit.«
»Gibt es ein Heilmittel?«
»Sicher, aber nicht jeder will es. Ich glaube, manche Leute schätzen die Krankheit höher. Sie ist ihnen vertrauter und sie wollen das nicht aufgeben, obwohl sie wissen, wie sie geheilt werden könnten. Und die Heilung an sich ist natürlich auch schwer durchzuführen.« In seiner Stimme lag Bedauern.
Ich dachte an Nadia dort draußen in der unermesslichen Dunkelheit, allein mit ihrem Leid. Aber Malachi sagte, dass es einen Ausweg gab, eine Möglichkeit, Nadia von ihrer Trauer zu heilen. Sie würde wieder gesund werden. Und ich würde dafür sorgen, dass es passierte.
Malachi lehnte sich gegen die Brüstung. Er zeigte zu dem weißen Gebäude ganz am Ende der Stadt, das nach mir gerufen hatte, kurz bevor ich durch das Tor lief. Es zerrte immer noch an mir, lockte mich.
»Das ist das Allerheiligste«, sagte er.
Automatisch trat ich einen Schritt zurück. Das Gebäude, das mich wie ein Magnet anzog, war eben jenes, das ich nicht besuchen wollte.
»Gut zu wissen«, murmelte ich.
Als uns ein Windhauch traf, schloss er die Augen. Das war wohl die größte Annäherung an frische Luft in dieser Stadt und ich beobachtete, wie Malachis Brust sich beim Einatmen hob. Ich ließ den Blick wieder nach Osten schweifen. Die Gebäude waren dort nicht so groß und die Stadtmauer gut zu erkennen. Dahinter sah ich gerade noch den wilden Wald. Ein riesiger Vogelschwarm brach durch die Bäume und flog über die Wipfel. Der Mond schwebte tief und groß und hell direkt über ihnen. Wenigstens nahm ich an, dass er hell war. Der Schleier über der Stadt dämpfte seine Schönheit und machte sein Schimmern schwach und grau.
»Die Dunkelheit ist ein Teil der Stadt«, sagte Malachi, der sah, wie ich zwinkerte. »Aber mit ein bisschen Erfahrung kannst du Tag und Nacht unterscheiden. Du kannst die Sonne sehen. Ihr Licht erreicht uns nicht, aber ich habe gelernt, sie zu erkennen.«
»Wie lange bist du schon hier?« Ich hatte Angst, dass ich die Antwort mehr oder weniger schon kannte. Aber um seinetwillen hoffte ich, dass ich falsch lag.
Er seufzte. »Das Fortschreiten der Jahre ist schwerer zu verfolgen als das Vorübergleiten der Tage. Welches Jahr ist jetzt auf der Erde?«
Ich sagte es ihm und bereute es im selben Moment.
Er sah auf seine Stiefel. »Oh, dann ist es lange her. Länger als ich dachte. Ich möchte es dir nicht sagen.«
»Tut mir leid. Ich wollte nicht so neugierig sein.«
Wieder seufzte er. Schließlich sah er mich an und sagte zögernd: »Ich bin ungefähr seit siebzig Jahren in dieser Stadt.« Ich rechnete kurz im Kopf nach und nickte. Soweit ich mich erinnerte, passte es. Das hieß, er starb … tötete sich … in den frühen 1940er Jahren.
Aufmerksam beobachtete er meine Reaktion. »Du wirkst nicht überrascht.«
Ich nahm seine Hand in meine. Als meine Finger in seinen Ärmel schlüpften, zuckte er zurück, aber dann fing er meinen Blick auf und hielt still. Ich zog den Ärmel bis zum Ellbogen hoch und fuhr mit dem Daumen über die Tätowierung. »Ich hab’s gesehen. Als du bewusstlos warst. Ich war mir nicht sicher, aber ich hab in der Schule davon gehört. Was die
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