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Innerste Sphaere

Innerste Sphaere

Titel: Innerste Sphaere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Fine
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Nazis den Juden und den anderen im Konzentrationslager angetan haben.«
    »Ja. Ana hat mir gesagt, dass es jetzt in den Schulen durchgenommen wird. Die Leute nennen es den ›Holocaust‹. Ein schreckliches Wort, aber es passt.« Er neigte den Kopf und betrachtete die Tätowierung. »Geschichte. Manchmal fühlt es sich so frisch an. Und dann ist es wieder Jahrtausende her. Und immer fühlt es sich kleiner an als dieses Wort. Geschichte ist groß. Für mich war es nur meine Familie, mein Viertel, meine Stadt, in der es immer enger wurde. Zuerst bemerkte ich gar nicht, wie alles schrumpfte und beklemmender wurde und zerfiel. Um es zu verstehen, war ich zu jung. Aber als ich glaubte, es könnte nicht schlimmer werden, wurde es schlimmer. Und immer schlimmer.«
    Ich drückte seine Hand. »Es tut mir leid.« Ich wusste nicht, was mir mehr leid tat: was er durchgemacht hatte oder dass ich ihn dazu brachte, darüber zu reden.
    »Ist schon gut«, beruhigte er mich, aber seine Stimme strafte ihn Lügen. Er blickte zum Mond auf und ich sah jetzt nicht mehr den Schmerz in seinen Augen, sondern etwas anderes.
    Sehnsucht.
    Er sehnte sich danach zu flüchten. Er
flüchtete
in diesem Moment. Dieses Gefühl kannte ich gut, auf einen Punkt an der Wand zu starren, da, wo die Tapete sich abschält, und mir vorzustellen, wie ich hindurchkrabble auf die andere Seite, zu einem Ort ganz weit weg von meinen Problemen. Wie oft hatte ich das schon getan? Wie oft hatte ich mich so stark darauf konzentriert, dass ich gar nicht mehr in meinem Körper war? Wie oft hatte es mich davor bewahrt, in tausend Stücke zu zerbrechen?
    Er schien so weit weg, dass ich fragen musste. »Bist du da?«
    »Nein«, flüsterte er.
    Ob ich glücklich oder traurig sein sollte, wusste ich nicht, ich wollte, dass er bei mir war, aber genauso wünschte ich mir, dass er frei wäre. Beides ging wohl nicht. Ich berührte sein Gesicht, die geschwollenen Kratzer, die ich ihm in Panik zugefügt hatte, sein kantiges Kinn, seine Haut, die sich gleichzeitig wie Eisen und Seide anfühlte.
    Meine Hand wanderte zu seiner Brust. Ich spreizte die Finger, spürte seine Hitze und das Pochen seines Herzens. Halb erwartete ich, dass er mich wegstieß. Stattdessen breitete er die Arme aus und griff nach der Eisenbrüstung, öffnete sich und ließ mir die Kontrolle.
    Ich legte die Hand um seine Taille und lehnte mich nach vorn, meine Stirn ruhte auf seiner Brust. Wir standen genauso da wie damals, als ich ihn für den nicht vorhandenen Schlüssel verführen wollte. Jetzt schlug mein Herz genauso schnell und seines auch. Doch diesmal wollte ich nichts von ihm, außer dass er hier mit mir war. Seine Knöchel auf der Brüstung wurden weiß, als würde er sich anspannen. Oder sich
zurückhalten
. Aber sein Blick lag in der Ferne und er sah nicht aus, als würde er bald wiederkommen. Also entschied ich, mich ihm anzuschließen.
    Ich atmete ein, inhalierte den Leder- und Schweißgeruch seiner Haut und drehte mich zum Wald hin um. Er war hinter mir. Es fühlte sich gut an, denn nach dieser Nacht war mir klar, dass er mich nicht verletzten würde.
    Tatsächlich wusste ich, dass es ihn verletzte, derjenige zu sein. Derjenige, der meinen Dämon spielte, damit ich den wahren Dämon exorzieren konnte. Auch wenn dessen Macht noch nicht ganz gebrochen war, hatte er sich so weit beruhigt, dass ich einen Schritt rückwärts machen und Malachis Wärme spüren konnte. Ich löste seine Hände von dem Geländer, das sie umklammerten, führte seine Arme um mich herum und ließ mich von ihm festhalten. Außer dem Klopfen seines Herzens und seinem beschleunigten Atem gab er mir kein Zeichen, wie er sich fühlte. Er hüllte mich ein, wie eine Decke, wie eine Rüstung.
    »Malachi, kann ich bei dir sein, wo auch immer du bist?«
    Er bewegte sich sehr langsam, als fürchtete er, meine Erinnerungen und Ängste zu wecken. Aber dieses Mal war es angenehm, wie seine Arme sich fester um mich schlossen, und ich lehnte mich zurück, als er sein Kinn auf meinen Kopf legte.
    »Ich dachte schon, du fragst nie«, sagte er leise. »Ja.«

16
    »Auf, Lela. Zeit zu gehen«, trällerte Ana.
    Ich stöhnte und drehte mich um. Malachi und ich waren zu lange auf dem Turm geblieben, aber es hatte sich so gut angefühlt, dass es mir nicht leid tun konnte. Wortlos hatte er mich festgehalten, gemeinsam schauten wir in den fernen Wald, träumten jeder für sich, atmeten gemeinsam. Es mochten Stunden vergangen sein. Vielleicht aber auch

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