INRI
Wagen - die Zeitmaschine, die sie bald aus der Wüste bergen wollten -, und er erzählte ihnen, daß er ihn von Ägypten nach Syrien und dann hierher getragen habe. Sie nahmen das Wunder gelassen auf. Sie waren an Wunder gewöhnt.
Die Essener hatten merkwürdigere Dinge gesehen als seine Zeitmaschine.
Sie hatten Menschen über Wasser laufen und Engel vom Himmel herabkommen und wieder aufsteigen sehen; sie hatten die Stimme Gottes und seiner Erzengel gehört, und auch die verführerische Stimme des Teufels und seiner Gesellen.
Sie schrieben all diese Dinge in ihre Pergamentrollen, die lediglich Aufzeichnungen des Übernatürlichen enthielten, so wie sie in ihren anderen Rollen Aufzeichnungen über ihr tägliches Leben und Nachrichten, die reisende Mitglieder ihrer Sekte mitbrachten, verzeichneten.
Sie lebten ständig in der Gegenwart Gottes, sprachen mit Gott und erhielten Antworten von ihm, wenn sie ihr Fleisch genügend kasteit und genug gefastet und ihre Gebete unter der sengenden Sonne Judäas gesprochen hatten.
Karl Glogauer ließ sein Haar lang wachsen und rasierte sich nicht mehr. Sein Gesicht und sein Körper waren bald von der Sonne gebräunt. Er kasteite sich und fastete und sprach seine Gebete unter der Sonne, so wie sie es taten.
Aber er hörte Gott kaum, und nur einmal meinte er einen Erzengel mit brennenden Schwingen gesehen zu haben.
Eines Tages führten sie ihn zum Fluß und tauften ihn auf den Namen, den er Johannes dem Täufer zuerst genannt hatte. Sie tauften ihn Immanuel.
Die Zeremonie mit ihrem Singen und Schwingen stieg ihm sehr zu Kopfe, und er war danach in einer euphorischen Stimmung und glücklicher als je zuvor.
5
Trotz seiner Bereitschaft, die Visionen der Essener selbst zu erleben, wurde Glogauer enttäuscht.
Andererseits überraschte es ihn, daß er sich so wohl fühlte angesichts der Härten, die er auf sich nahm. Er fühlte sich auch gelöst in der Gesellschaft dieser sonderbaren Männer und Frauen, die, das mußte er zugeben, nach jeder normalen Betrachtungsweise zweifellos wahnsinnig waren. Vielleicht kam es daher, daß ihr Wahnsinn von seinem nicht allzu verschieden war, daß er sich nach einiger Zeit keine Gedanken mehr darum machte.
Monica.
Monica hatte kein silbernes Kreuz.
Sie hatten sich kennengelernt, als er in der Nervenheilanstalt von Darley Grange als Pfleger arbeitete. Er hatte geglaubt, er könnte sich hocharbeiten. Sie war eine psychiatrische Sozialarbeiterin, die mehr Mitgefühl gezeigt hatte als die anderen, als er sich um Gehör für seine Klagen über die harte Behandlung der Patienten bemühte, über die kleinen Quälereien durch andere Pfleger und Schwestern, die Schläge und Anschnauzer.
»Wissen Sie, wir kriegen einfach nicht das richtige Personal«, hatte sie ihm gesagt. »Die Bezahlung ist viel zu schlecht…«
»Dann sollten sie eben mehr bezahlen.«
Statt die Achseln zu zucken wie die anderen, hatte sie genickt. »Ich weiß. Ich habe deswegen schon zwei Briefe an den Guardian geschrieben - ohne meine Unterschrift, wissen Sie -, und keiner wurde veröffentlicht.«
Er war kurz danach gegangen und sah sie mehrere Jahre nicht wieder. Er war zwanzig.
Johannes der Täufer kehrte eines Abends zurück. Mit zwanzig oder mehr seiner engsten Jünger im Gefolge kam er über die Hügel gewandert.
Glogauer sah ihn, als er sich anschickte, die Ziegen für die Nacht in ihre Höhlen zu treiben. Er wartete auf Johannes.
Zuerst erkannte der Täufer ihn nicht, aber dann lachte er.
»Aber, Immanuel, du bist ein Essener geworden, wie ich sehe. Haben sie dich schon getauft?«
Glogauer nickte. »Ja.«
»Gut.« Dann zog der Täufer die Stirn kraus, als ihm ein anderer Gedanke kam. »Ich war in Jerusalem«, sagte er. »Um Freunde aufzusuchen.«
»Und was gibt es aus Jerusalem zu berichten?«
Der Täufer sah ihn offen an. »Daß du wahrscheinlich kein Spion des Herodes oder der Römer bist.«
»Ich bin froh, daß du zu diesem Schluß gekommen bist«, sagte Glogauer lächelnd.
Der harte Gesichtsausdruck des Johannes milderte sich. Er lächelte und packte ihn in der Art der Römer am Oberarm.
»Du bist also unser Freund. Vielleicht mehr als nur ein Freund…«
Glogauer zog die Brauen hoch. »Ich verstehe dich nicht.« Er war erleichtert, daß der Täufer, der offensichtlich die ganze Zeit damit zugebracht hatte, sorgfältig zu überprüfen, ob Glogauer nicht im Sold seiner Feinde stand, zu der Überzeugung gekommen war, daß er ein Freund sei.
»Ich glaube,
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