Ins dunkle Herz Afrikas
Fischchen. Vor Henriettas Blick schob sich ein Bild aus der Vergangenheit, Julia und Jan in demselben Felsenteich. Ihre Gedanken liefen weg. Sie spürte den heißen Sand unter den Füßen, hörte die Felsen flüstern. Es roch salzig nach Seetang, und alles schien in flimmerndes Licht getaucht. Das Blau des afrikanischen Himmels spiegelte sich auf der Wasseroberfläche. Die Kinder zu ihren Füßen juchzten - oder waren es die Rufe von Möwen? »Thula wena, sei ruhig«, hörte sie, ein weicher Wind trug die kehligen Laute eines Zuluwiegenliedes an ihr Ohr, sie schwebten zu ihr herüber, süß wie Honig und so vertraut, so nahe, dass sich ein Schluchzen in ihrer Kehle fing, aber es gelang ihr, es hinunterzuschlucken. Energisch zwang sie sich in die Wirklichkeit zurück. Keine Fluchten mehr! Sie war hier, und hier war Hamburg, Deutschland, und hier würde sie bleiben.
»Thula, Umntwana, thula«, vernahm sie wieder, und ihr Atem stockte. Ruhig, mein Prinz, ruhig, hatte die tiefe raue Stimme gesagt - eine Stimme, die ihr bekannt vorkam. »Mühle«, verstand sie, mehr nicht. Schön, hatte der Mann gesagt, und eine hohe weibliche Stimme zwitscherte die Antwort. In Zulu, und das war keine Einbildung gewesen! Das Dielenfenster stand offen, die Stimmen mussten aus dem Vorgarten kommen!
Sie sprang auf und rannte durchs Haus und riss die Eingangstür auf.
Urplötzlich stand ein baumlanger Schwarzer in heller Hose und weißem Hemd vor ihr, der ein milchkaffeebraunes Baby auf dem Arm 469
trug. Hinter ihm tauchte eine vollschlanke, junge Frau in einem prächtigen afrikanischen Gewand auf. Ihre cremigweiße Haut war mit Sommersprossen übersät, ihr rotgoldenes Haar fiel ihr bis auf die Hüfte, ein perlbesticktes Stirnband, leuchtend blaugrün wie ihr bodenlanges afrikanisches Gewand, schmückte ihren Kopf. Unentwegt redete die junge Frau in Zulu auf den Mann ein. »Isabella? Lukas?«, rief sie entgeistert. »Das-kann-doch-nicht-sein-wo-kommst-du-denn-her-was-macht-ihr-hier-wie-geht-es-euch?« Nach Luft schnappend, hielt sie inne, bemerkte, dass sie sich anhörte wie ihre Freundin Glitzy. »Was um alles in der Welt ist passiert?«, setzte sie ein wenig ruhiger hinzu.
»Sakubona«, grinste sie, »das ist Themba! Sag hallo zu deiner Tante«, forderte sie den Kleinen auf, »Themba heißt Hoffnung«, lächelte sie. Themba musterte sie ernsthaft aus leuchtenden, goldbraunen Augen, blies ein paar Blasen und schob den Daumen in den Mund. »Wo kommt ihr her?«, wiederholte Henrietta.
»Guten Tag, Henrietta«, grüßte Lukas auf Englisch. »Hallo, Lukas.« Ihre Begrüßung fiel kühl aus. Noch war Lukas für sie einer der Männer, die sie gekidnappt und tagelang festgehalten hatten, einer der Männer, denen Mary versprochen hatte, emveni! Er hatte sie gerettet, ohne ihn hätte sie Moses nicht entkommen können, dessen war sie sich klar. Aber sie wusste, dass sie von ihm hören musste, warum er gezögert hatte, warum er so lange gewartet hatte, bevor er sich entschied, ihr beizustehen, um in ihm einen anderen Menschen sehen zu können als Lukas, den Terroristen. Sie führte ihre Besucher ins Haus. »lan, du wirst nicht erraten, wer hier ist!«
lan saß noch immer vor dem Fernseher im Wohnzimmer und schaute sich den Film mit seiner Tochter und Enkelin an. Er sah hoch, als sie eintraten.
»Isabella?«, fragte er in dem gleichen ungläubigen Ton wie Henrietta. »Wie kommst du denn hierher?« Er umarmte sie herzlich, dann stellte Henrietta ihm Lukas vor. lan zog die Brauen zusammen, musterte ihn finster. Henrietta bemerkte seine Reaktion mit Beunruhigung. Verstohlen 470
sah sie ihn an. Mahlende Kinnbacken, Augen stürmisch, Schultern leicht hochgezogen - deutliche Anzeichen für sie, dass er schäumte vor unterdrückter Wut. Was war nur in ihn gefahren? Sie legte ihre Hand auf seinen Arm, spürte die angespannten Muskeln. »Was ist?«, flüsterte sie.
Er schloss sie in die Arme, lehnte seine Stirn an ihre. »Ich werde dafür sorgen, dass du in Zukunft ruhig schlafen kannst, Liebes, dass deine Albträume endlich aufhören. Bitte überlass das hier mir.« Damit schob er sie sanft beiseite und baute sich vor Lukas auf. »Ich will jetzt von dir wissen, was damals in Maiys Umuzi mit Henrietta passiert ist. Raus mit der Sprache!«
Lukas rührte sich nicht. Themba, offenbar aufgeschreckt durch lans harschen Ton, starrte ihn mit offenem Mund an. »Als ich sie am Fluss sah, wusste ich sofort, dass ihr etwas zugestoßen war, aber sie wollte nicht
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