Ins Eis: Roman (German Edition)
wollte nicht an ihm zweifeln.
Ein hochgewachsener Umriss baute sich vor dem Milchglas neben der Tür auf; Kirsten klappte das Notizbuch zu. Die Tür ging auf, und die Polizistin und ihr männlicher Kollege von eben betraten den schmalen Raum. Der Mann gab Kirsten die Hand und stellte sich vor, ein Name, den sie sogleich vergaß. Sie stopfte das Notizbuch zurück in ihre Tasche und rutschte mit dem Stuhl näher an die Wand, damit die beiden Platz hatten, um einen dritten Stuhl aus einem anderen Büro herbeizuschaffen. Der Polizist nickte in Richtung ihrer Tasche.
»Führen Sie Tagebuch, Frau Stolt?«
»Nein, so überzeugt bin ich nicht von mir.«
Der Mann lachte. »Ich habe den Eindruck, der Rest Ihrer Familie denkt da anders über sich.«
»Die goldene Regel des Einheiratens: Die Schwiegerfamilie ist immer perfekter.«
»Mögen Sie Ihre Familie?«
»Meistens.«
»Die Stolts mehr als die Warthenbergs?«
»Fredrik, Monika und Erland sind wundervolle Menschen, und ich denke, es ist ganz natürlich, dass ich ihnen näherstehe als der Familie meiner Stiefschwiegermutter.«
»Sie sind ein Einzelkind wie Ihr Sohn?«
»Ja.«
»Sie haben mit dem Gouverneur letzte Woche über den Tod Ihres Mannes gesprochen. Sie hatten ein paar, sagen wir, bemerkenswerte Fragen. Zum Beispiel, ob er eine Geliebte hatte.«
Kirsten schwieg überrumpelt.
»Den Hotel- und Flugunterlagen haben wir entnommen, dass Ihr Mann im Herbst zur gleichen Zeit wie Ihre Stiefmutter, Elisabeth Stolt, auf Spitzbergen war. Kurz vor seinem Tod.«
»Das stimmt. Sie haben zusammen den Geburtstag meines Schwiegervaters geplant, aber Elisabeth ist vor Kristoffers Unfall abgereist. Oder haben Sie das den Unterlagen nicht entnehmen können?«
Das Telefon klingelte. Die Polizistin antwortete. Die Pause gab Kirsten die Gelegenheit, sich wieder zu fassen. Sie hatte sich darauf eingestellt, die Polizei würde sie nach Details aus Erlands Todesnacht fragen. Die Wende, die das Gespräch nahm, erwischte sie kalten Fußes. Die Polizistin legte den Hörer auf.
»Erzählen Sie uns bitte etwas über das Verhältnis von Elisabeth Stolt zu den Brüdern Kristoffer und Erland Stolt. Was ist ihre Rolle in der Bank, in der beide Männer arbeiteten?«
»Mein Mann hatte im Sommer einen Arbeitsvertrag unterschrieben, aber noch nicht angefangen, dort zu arbeiten. Wir standen kurz vor dem Umzug nach Köln. Elisabeth ist Gesellschafterin bei der Bank.«
»Damit war sie Erlands und bald auch Kristoffers Chefin?«
»Nein, das war sie nicht, nicht offiziell. Sehen Sie, Elisabeth übt keine geschäftsführende Funktion aus. Die Bank war früher zu über fünfzig Prozent in Familienbesitz der Warthenbergs; Elisabeth und Hartmut erbten ihre Anteile von ihrem Vater. Hartmut war von Beginn an in der Bank beschäftigt, Elisabeth jedoch stets nur stille Gesellschafterin.«
»Ich würde annehmen, wer das Kapital hat, hat das Sagen, Titel hin oder her.«
»Elisabeth und Hartmut halten zusammen keine fünfzig Prozent mehr an der Bank. Ich weiß nicht genau, wie viel, aber auf keinen Fall eine Mehrheit.« Kirsten berichtete von der Krise, in deren Folge sich die Bank auf Fredriks maßgebliches Betreiben hin nicht nur umstrukturiert hatte, sondern es auch zu Anteilsverschiebungen zu seinen Gunsten gekommen war, die er später durch den Erwerb weiterer Familienanteile und im Zuge von Eigenkapitalerhöhungen noch ausgebaut hatte. Sie berichtete ebenfalls, was sie über die Diskussion über den Einstieg institutioneller Investoren wusste, doch sie und die beiden Polizisten merkten schnell, wie vage ihr Wissen in diesem Bereich war, unprofessionell und lückenreich. Auf die Frage nach Erlands persönlichem Verhältnis zu seinen Kollegen auf Leitungsebene, insbesondere zu seinem Vater, Hartmut und Peter, erwiderte Kirsten, dass sie dazu nichts sagen könne. Sie sollten darüber mit Monika sprechen.
Die Polizistin verließ den Raum und kehrte nicht mehr zurück. Allein mit Kirsten, bat ihr Kollege, alles wiederzugeben, was sie von dem Abend, an dem Erland starb, in Erinnerung behalten hatte, außerdem möglichst den genauen Wortlaut, mit dem Tim Erland den Zugriff auf das Gewehr verweigert hatte. Ob es Streitereien gegeben habe, ob Erland aufgewühlt gewesen sei, wie sein Verhältnis während der Reise zu den anderen Tourmitgliedern gewesen sei.
»Die Stimmung war gut«, sagte Kirsten, »wir hatten Spaß. Erland war einer der umgänglichsten Menschen, die ich kannte. Es gab keine
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