Ins Eis: Roman (German Edition)
gestrichen, die Regale verschwanden unter Ordnern, ein paar Büchern und sorgfältig gestapelten Unterlagen. Der Computer war ausgeschaltet, an der Telefonanlage blinkte ein rotes Licht. Die Wand zum Flur hin bestand zum großen Teil aus Milchglas. Kirsten hatte wie alle anderen im Eingangsbereich ihre Schuhe ausgezogen. Jetzt tippte sie mit den Zehen die Tür an und ließ sie sanft ins Schloss fallen. Kaum klickte es, zog sie das grüne Notizbuch aus ihrer Tasche.
Kleine, schnörkellose Buchstaben zogen sich über die Seiten, akkurat auf die vorgedruckten Zeilen platziert, fast wie Blockschrift. Keine hastigen Einträge, Mitschriften, sondern langsam und penibel gesetzte Notizen. Kaum ein Wort war durchgestrichen, als ob es sich um Abschriften handelte – definitiv nicht Kristoffers Schrift, seine war schwungvoll gewesen, ausufernd. Blockschrift hatte er nie benutzt. Auf den ersten zwanzig Seiten handelte es sich wohl um Gedichte, oft reimten sich die letzten Worte einer Zeile, und die Umbrüche waren künstlich, Paragraphen zu Strophen arrangiert. Dazwischen fanden sich vereinzelte kurze Fließtexte. Kirsten sprang an das Ende des Notizbuchs. Die hintersten zehn Seiten waren blank, beim letzten Eintrag handelte es sich um eine Packliste oder Ähnliches, wie Kirsten aus einigen Worten schloss. Sie blätterte zurück in die Mitte. Hier war die Schrift enger gesetzt als auf den ersten Seiten, die Buchstaben gedrängter. Drei Seiten Fließtext, ohne Absätze, wenige Kommata, viele Punkte. Stakkatosätze. Danach, auf den folgenden Seiten, hatte der Autor manche Absätze mit Überschriften in Form von Datumsangaben versehen. Die meisten datierten auf den Sommer 1993. Alle Einträge waren auf Norwegisch. Abkürzungen, dem Anschein nach Initialen, tauchten auf diesen Textseiten wiederholt auf, am häufigsten jedoch eine Abkürzung, die Einzige, bei der auf Punkte verzichtet worden war: FKS.
Fredrik Kristoffer Stolt.
1993 – in diesem Jahr war Fredrik persönlich haftender Gesellschafter des Bankhauses Warthenberg geworden.
Kirsten trommelte mit den Spitzen von Zeige- und Mittelfinger gegen ihre Zähne, während sie versuchte zu ergründen, worum es in diesem Notizbuch gehen mochte. Den ersten Hinweis auf das Heft hatte sie der Randnotiz auf dem Artikel über das Minenunglück entnommen, aber keine der Jahreszahlen passte, die Inhalte waren jüngeren Datums, aus den Neunzigern, mehr als zehn Jahre nach dem Unglück. Damit würde sie momentan nicht weiterkommen. Also zurück zu Fredrik und seinen Söhnen. Fredrik hatte Erland deutlich zu erkennen gegeben, dass er ihn nicht als seinen Nachfolger für die Bankspitze vorschlagen würde. Im Gegenzug hatte Erland geglaubt, etwas zu wissen, womit er seinem Vater zusetzen konnte, und was immer dieses Geheimnis war, es hatte mit diesem Notizbuch zu tun. Das Kristoffer in seinem Besitz gehabt und das Erland nach Kristoffers Tod an sich gebracht hatte. Fredrik wiederum hatte es Erland abgenommen – womöglich sogar nach dessen Tod. Dazu hätte er jedoch das Zelt, in dem Erlands Leiche lag, betreten müssen, heimlich in der Nacht oder am Morgen. Hätte er dazu überhaupt Gelegenheit gehabt?
Kirsten ging in Gedanken Erlands Todesnacht und den Morgen danach noch einmal durch. In jener Nacht hatte Tim sich das Zelt mit Fredrik geteilt.
Trotzdem möglich, urteilte sie widerstrebend.
Fredrik hatte den Inhalt des Notizbuchs als Lügengeschmiere eines Journalisten abgetan. Erland hatte es ernst genommen. Sie hätte Erland fragen sollen, wie Kristoffer überhaupt an dieses Notizbuch gekommen war. Zu spät.
Kirsten gab dem Zweifel nach und stellte sich einen Moment lang der Frage, ob sie Fredrik so gut kannte, wie sie glaubte. Bestimmt nicht, dazu gab es zu viele Geheimnisse, fehlende Bruchstücke in seiner Biographie. Weshalb musste er erst in einem Krankenhaus am Ende der Welt liegen, um ihr und seinem Enkel von einem Minenunglück zu erzählen, bei dem er fast ums Leben gekommen wäre? Allerdings erkannte man einen Menschen auch nicht nur anhand der Einzelinformationen, die man über ihn sammelte, sondern an den Mustern seines Lebens: Loyalität, Pflichterfüllung, Ehrgeiz, Familiensinn, Großzügigkeit, Geschäftssinn, Vertrauen, Anstand, Disziplin, doch welches zählte mehr, wenn sich diese Prinzipien gegeneinanderwandten?
Kirsten hätte Fredrik jederzeit ihr Leben anvertraut. Er war der Fels in der Brandung, unumstößlich an ihrer und Jonas’ Seite, pater familias . Sie
Weitere Kostenlose Bücher