Ins Eis: Roman (German Edition)
zweite Mann in dem Schacht ist beim Einbruch der Decke von einem Felsbrocken getroffen worden und starb an seinen Verletzungen.«
»Das muss der Schacht gewesen sein, in dem Fredrik verschüttet wurde. Wir haben gestern über das Unglück gesprochen. Er hat allerdings nichts davon erwähnt, dass er mit einer anderen Person in dem Schacht festgesessen hätte. Bei ihm klang es, als wäre er allein gewesen.«
»Womöglich weil er mit einer Leiche festsaß.«
Sie wechselten einen Blick. Kirsten war sicher, sie hatten beide dieselbe grausige Vorstellung vor Augen: eingesperrt mit Erlands Leiche im Zelt, stunden-, womöglich tagelang. Wenn sie auf der Tour keine Expeditionszelte dabeigehabt hätten, sondern nur das große Gemeinschaftszelt, dann wäre es in dieser Nacht womöglich so gekommen.
Tim blätterte weiter. Stockte. Er fragte: »Kannst du mir einen Kaffee organisieren?«
»Klar. Kaffee, Espresso, Cappuccino?« Sie stand auf.
»Einfach nur Kaffee mit Milch. Die Nacht war wieder mal zu kurz.«
»Ihr seid mit den Hunden die ganze Strecke zurückgefahren? An einem Stück?«
Er nickte geistesabwesend; er las bereits weiter im Notizbuch. Kirsten ging ihm einen Kaffee holen. Als sie zurückkam und sich neben ihn setzte, ihm die dampfende Tasse reichend, fiel ihr auf, dass sein grauer Wollpullover kaum nach Rauch roch.
»Ich rauche nur im Freien.« Er zeigte ihr den letzten Eintrag im Notizbuch. »Das ist eine Umzugsliste oder so etwas Ähnliches.«
»Mann oder Frau?«
Er las sich die Liste noch einmal genauer durch. »Kann ich nicht sagen. Es sind vor allem Haushaltsgegenstände aufgelistet, ansonsten heißt es nur: Kleider, Schuhe, Toilettenartikel. Hinter einigen Gegenständen sind kleine Pfeile, gefolgt von einzelnen Buchstaben, siehst du hier zum Beispiel? Fahrrad A, Nähmaschine I.«
»Nähmaschine klingt doch eher nach Frau.«
»Kann man so nicht sagen, vor allem nicht in Skandinavien. Aber das in der Mitte, hier, das ist richtig interessant.« Er blätterte die Seiten nach vorne, zu jenem Teil des Notizbuchs, der mit Überschriften in Form von Datumsangaben versehen war. »Das scheinen Aussagen zu sein. Interviews mit Zeugen. Über das Grubenunglück.«
»Aber da steht 1993, das ist zwölf Jahre später.«
»Ja, das irritiert mich auch. Es sieht trotzdem so aus, als wären die Interviews 1993 geführt worden. Die Buchstaben hier, die Initialen, das scheinen die Leute zu sein, die interviewt wurden. T. M., K. O., I. L. und noch ein paar andere. Aber diese drei sind interessant; die anderen geben praktisch nur wieder, was wir schon wissen. Aber bei diesen dreien scheint es so zu sein, als würden sie Fredrik vorwerfen« – er tippte auf die Buchstabenfolge FKS, die Kirsten bereits aufgefallen war –, »dass er damals den Minenarbeiter, der mit ihm im Schacht gewesen war, getötet hat. Weil Fredrik befürchtete, der Sauerstoff würde ausgehen, bevor sie beide gerettet würden. Diese drei Leute glauben, der Minenarbeiter ist nicht von der einbrechenden Grubendecke erschlagen worden, sondern von Fredrik.«
Kirsten nahm Tim das Büchlein aus der Hand. Der grüne Umschlag war aufgeraut, an den Kanten schimmerte Pappe durch. Sie wog es in der Hand, als ob sein Gewicht irgendeine Aussagekraft besäße.
»Führen sie Gründe für diese Annahme an? Beweise?«
»Sie sagen, M.L.s – das scheint für den Namen des getöteten Arbeiters zu stehen –, also M.L.s Wunde habe bei der Bergung nicht so ausgesehen, als sei sie bereits zwei Tage alt. Deshalb, behaupten sie, kann es nicht bei beziehungsweise kurz nach der Explosion passiert sein, sondern ist erst später passiert, vielleicht sogar nur Stunden, bevor sie sie ausgruben.«
»M. L. – Magnus Lund.« Kirsten wedelte mit dem Zeitungsbericht. »Der Name steht hier drin. Aber dass nach einem Einsturz weiterhin Brocken aus der Decke fallen, ist doch wohl nicht unwahrscheinlich?«
Tim hob die Achseln. »Es heißt außerdem in diesen Zeugenberichten, M. L. habe an einer Stelle gelegen, wo der Schacht nicht nur recht intakt, sondern auch niedriger als ein Meter dreißig war. Einer der drei, der mit den Initialen K. O., geht sogar so weit, Fredrik überhaupt die Schuld an dem Unglück zu geben. Immerhin war Fredrik damals leitender Ingenieur. Er sagt, Fredrik habe beide Männer auf dem Gewissen, nicht nur den, den er erschlagen haben soll, um selber überleben zu können, sondern auch das andere Opfer. Er behauptet außerdem, der Sauerstoff in dem
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