Ins Eis: Roman (German Edition)
Haut.
Zu diesem Zeitpunkt musste ihm die Bedrohlichkeit seiner Situation bewusst geworden sein. Vielleicht hatte er sogar nochmals versucht, an den Rucksack zu kommen, und war dabei noch nässer geworden. Jedenfalls hatte er sich auf den Weg gemacht; weiter den Fluss entlang. Wahrscheinlich war er gerannt. Die fallenden Temperaturen hatten den Niederschlag bereits in großflockigen Schnee verwandelt, gegen ein Uhr nachmittags war in Longyearbyen der Gefrierpunkt um einige Grad unterschritten worden. Der Wind hatte den Körper in den nassen Kleidern heruntergekühlt. Auf starkes Zittern war Verwirrung gefolgt. Die zurückgelassene Jacke, die die Suchmannschaft zwischen der Stelle, wo er womöglich versucht hatte, den Fluss zu überqueren, und seinem Todesort gefunden hatte, deutete darauf hin.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Kirsten. Es war das erste Mal seit zehn Minuten, dass sie sprach. Jonas saß zu ihren Füßen und malte mit Buntstiften auf einem Papier. Da sie Englisch redeten, verstand er kein Wort.
»Am Anfang einer Unterkühlung zittert das Hypothermieopfer, weil es friert. Mit der Zeit wird dieses Zittern ein richtiges Schütteln, das Bewusstsein beginnt sich zu trüben. Schreitet die Unterkühlung fort, passiert es oft, dass die Opfer nicht mehr frieren, sondern gar glauben, es wäre ihnen heiß. Und dann ziehen sie ihre Kleidung aus. In Kristoffers Fall war es die Jacke. Er hat sie ausgezogen und weggeworfen.«
»Mein Mann war ein erfahrener Bergsteiger. Ich möchte Ihnen nicht widersprechen, aber es ist schwer vorstellbar, dass er solche Fehler gemacht haben soll. Die Flussüberquerung, der verlorene Rucksack und dann die Jacke.«
»Glauben Sie mir, Ihr Mann ist nicht der Erste, dem das passiert ist, und er wird leider auch nicht der Letzte sein. Erst vorige Woche war es ein Mann aus Nordschweden mit seinen zwei Söhnen. Sie haben das Wetter unterschätzt, haben ihr Schneemobil im Schnee festgefahren und weder Zeltausrüstung noch Biwaksäcke bei sich getragen. Wir mussten eine Rettungsaktion starten. Was ich damit sagen will, ist: Jeder kann einen Fehler machen, jeder kann Pech haben. Ihr Mann hätte den Notpeilsender bei der Flussüberquerung am Körper tragen sollen, aber dass er dabei den Rucksack verloren hat, war keine Dummheit. Bevor Sie einen Fluss überqueren, öffnen Sie immer Brust- und Hüftgurt, damit Sie sich im Zweifelsfall schnell befreien können. Richtig war auch, dass er seinen geplanten Tourverlauf im Hotelzimmer hinterlegt hatte, nur so haben wir ihn überhaupt so schnell finden können. Gewiss hätte er an dem Tag besser überhaupt nicht zu einer Tour aufbrechen sollen, aber das ist typisch für Touristen: Sie kommen hierher, und dann herrscht tagelang schlechtes Wetter. Kaum öffnet sich ein Fenster, wollen sie unbedingt die Gelegenheit nutzen. Manchmal ist es auch das Vertrauen in die Technik – Notpeilsender, GPS –, das die Menschen unvorsichtig werden lässt. Wenn etwas passiert, denken sie, drücken sie einfach den Knopf, und dann wird alles gut.«
»Mein Mann war nicht so.«
Der Sysselmann zuckte die Achseln. »Glauben Sie mir, wir haben uns all diesen kritischen Fragen gestellt. Ihr Mann war im besten Alter und körperlich in guter Verfassung. Dort, wo er gefunden wurde, steht nicht weit entfernt eine alte Hütte, in der er Zuflucht vor dem Wind hätte suchen können. Tatsache ist jedoch auch, dass er völlig durchnässt war, die Temperaturen winterlich, der Wind eisig und die Sicht miserabel. Wer weiß, wie lange er versucht hat, an seinen Rucksack zu kommen, bevor er losgelaufen ist? Mit seinem Rucksack hatte er auch die Karte verloren und konnte die Hütte bei schlechter Sicht nicht finden.« Er deutete hinter Kirsten. »Wir haben die Sachen Ihres Mannes, die Ihr Schwager damals nicht mitgenommen hat, zusammengesucht. In der linken Kiste sind die Gegenstände, die er bei seiner letzten Tour bei sich trug. Die rechte Kiste ist vom Hotel. Wir haben auch eine Inventarliste von allem erstellt, falls Sie sie sehen wollen.«
Kristoffers Jacke, die er an jenem Tag getragen und von sich geworfen hatte, lag ganz oben in der linken Kiste. Kirsten legte sie sich über den Arm, während sie langsam einen Gegenstand nach dem anderen berührte. Die Fleecemütze hatte er beim letzten Skiurlaub in Österreich erstanden; die abgegriffenen Handschuhe stammten noch aus seiner Studienzeit. Eine Plastikdose für Brote, eine Thermoskanne, beide leer. Der Rucksack mit dem
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