Ins Eis: Roman (German Edition)
Schlumpfanhänger an der Seite, ein Geschenk von Jonas. Der Anhänger war der einzige Gegenstand, den Kirsten sofort an sich nahm. Die Wertsachen – Geldbeutel, Kamera, GPS – hatte Erland, Kirstens Schwager, bereits kurz nach Kristoffers Tod nach Deutschland überführt. Vielleicht würde Fredrik ja die Funktionsjacke haben wollen, sie war neu gewesen. Kirsten drehte das Kleidungsstück in ihren Händen, zupfte fahrig an den zahlreichen Reißverschlüssen. Als sie in die Innentasche der Jacke griff, knisterte es unter ihren Fingerspitzen. Sie zog die Hand zurück. Es war ein Kondom.
Kirsten verhütete mit der Spirale. Sie und Kristoffer hatten seit Jahren kein Kondom mehr benutzt.
»Sagen Sie, gab es einen Anhaltspunkt bei Ihrer Untersuchung, dass mein Mann auf Spitzbergen eine Geliebte hatte?«
Die Frage ließ den Gouverneur die Stirn runzeln. »Nein, tut mir leid, davon weiß ich nichts. Verstehen Sie, der Tod Ihres Mannes war ein schrecklicher Unfall. Ich habe vollstes Verständnis für Ihren Kummer, dass es Ihnen schwerfällt, seinen Tod zu akzeptieren, aber es war ein Unfall, wie er immer wieder geschieht. Es gibt nicht den geringsten Hinweis auf Fremdeinwirkung oder die Anwesenheit eines anderen Menschen vor, bei oder nach seinem Tod. Er ist eindeutig an Hypothermie gestorben. Hätten wir daran Zweifel gehabt, wäre seine Leiche für weitere Untersuchungen zum Festland geschickt worden.«
»Das habe ich auch nicht gemeint.«
»Dann bin ich für das, was Sie vielleicht meinen, wohl auch nicht zuständig. Wenn Sie hier länger bleiben, werden Sie nachvollziehen können, wie schnell die Natur Fehler bestraft. Ich kann Ihnen anbieten, dass wir Sie zu der Stelle bringen, an der Ihr Mann starb. Jetzt ist Winter, das Tal ist von Schnee bedeckt, doch vielleicht hilft es Ihnen. Sie können außerdem gerne mit der Ärztin sprechen, die die Leiche Ihres Mannes untersucht und die Todesursache bestätigt hat; sie wird Ihnen mehr über Hypothermie erzählen können. Aber ich fürchte, bei allem anderen, was Ihnen auf der Seele liegt, kann ich Ihnen nicht weiterhelfen, so leid mir das tut.«
Kirsten hasste es, für hysterisch gehalten zu werden. Das retuschierte Foto, das Kondom – verdammt, was sollte sie denn auch anderes vermuten? Sie wollte sich die Augen reiben, erinnerte sich im letzten Moment daran, dass sie nach der durchwachten Nacht mehr Make-up als üblich aufgelegt hatte, und klemmte sich stattdessen bloß eine Haarsträhne hinter die Ohren.
»Ja«, sagte sie langsam, während sie die Jacke in die Kiste zurücklegte, das Kondom in ihrer Faust verborgen. »Ja, das wäre nett. Beides, meine ich: Wenn ich mit der Ärztin sprechen dürfte, und wenn Jonas und ich die Stelle sehen könnten, wo Kristoffer starb.«
»Warten Sie kurz.« Der Sysselmann verließ sein Büro und sprach in der Tür mit einer Mitarbeiterin, die daraufhin ein Telefonat führte. »Sie haben Glück: Ingrid Solberg, die Ärztin, hat heute Dienst. Fragen Sie einfach im Krankenhaus nach ihr und sagen Sie ihr, dass Sie von mir kommen. Und wegen des Unglücksortes: Ihr Schwiegervater lässt sein Programm von Spitsbergen Polar Adventures durchführen, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht, wie die Agentur heißt. Die Chefin heißt Oda, ich habe sie gestern kennengelernt.«
»Das ist sie.«
»Sie sind gut informiert.«
»Das ist unser Job hier. Außerdem ist ein Jubiläumsprogramm wie das Ihres Schwiegervaters nicht alltäglich, schon gar nicht vor einem solchen Hintergrund.«
»Welchen Hintergrund meinen Sie?«
»Fredrik Stolt ist ein beeindruckender Mann. Ich habe gehört, Store Norske war damals gar nicht glücklich über seine Kündigung; er war einer ihrer besten Ingenieure und Manager. Sie haben alles versucht, ihn zu halten, und ihm ein für damalige Verhältnisse astronomisches Gehalt geboten, aber er wollte nicht. Wahrscheinlich war das Angebot der Deutschen einfach besser.«
»Fredrik ist damals nicht gleich nach Deutschland gegangen. Er hat zunächst in Bergen in der Firma seiner Schwiegerfamilie gearbeitet.«
»Tatsächlich? Da habe ich wohl etwas falsch verstanden.«
»Sie haben ihn getroffen?«
»Ja, gleich als er ankam, aber nur kurz.« Der Gouverneur verschwand abermals im Nebenzimmer. Diesmal dauerte es ein paar Minuten. Danach verkündete er, einer von Odas Mitarbeitern würde sie morgen mit dem Schneemobil zu der Stelle bringen, wo Kristoffer gestorben war. Die Agentur wisse, wo das sei, aber er würde ihnen zur
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