Ins Eis: Roman (German Edition)
Sicherheit noch die genauen GPS-Koordinaten faxen. Kirsten dankte ihm.
»Ich lasse Sie zum Hotel fahren, die zwei Kisten können Sie ja eh nicht tragen. Sie wissen, wo das Krankenhaus ist?«
»Nun, viele Gebäude stehen nicht zur Auswahl.«
»Ja, es ist überschaubar hier. Rufen Sie uns an, falls Sie noch weitere Fragen haben.«
Kirsten stand vor dem Eingang des Krankenhauses und rieb sich die in viel zu dünnen Lederhandschuhen steckenden Finger. Wenn sie etwas stärker durch die Nase atmete, fühlte es sich an, als ob ihre Nasenwände aneinanderklebten. Seit gestern Mittag war die Temperatur um erstaunliche 25 Grad gefallen. Dafür hatte man jetzt, in der klaren, trockenen Luft, einen wunderschönen Blick auf die umliegenden Berge. Sie hatte nicht drinnen warten wollen, sie mochte die Farben von Krankenhäusern nicht. Dabei wirkte das Gebäude von außen durchs Fenster betrachtet durchaus einladend mit einer Spielecke für Kinder und dem für Spitzbergen obligatorischen ausgestopften Eisbären.
Der Regen des vergangenen Tages hatte die Straßen Longyearbyens in Eisbahnen verwandelt. Kirsten beobachtete eine Gruppe Touristen, die mit wild rudernden Armen über die Wege schlitterten. Einem Fahrradfahrer, der in Richtung Universität unterwegs war, rutschte das Vorderrad weg – mit einem Scheppern stürzte das Rad auf den Asphalt. Kleine dunkle Splittsteinchen sprenkelten die Wege, mehr Kosmetik denn Schutz.
Fredrik war mit Jonas zu einer Besichtigungstour der in der Stadt verteilten Kohlebaudenkmäler aufgebrochen. Er hatte nicht gefragt, wie sie ihren Nachmittag zu verbringen gedachte, und sie war froh gewesen, es ihm nicht erklären zu müssen.
Sie spürte einen Lufthauch im Nacken. Sie drehte sich um. Hinter ihr war nichts außer der hölzernen Wand des Krankenhauses. Sie lugte um die Ecke. Am anderen Ende des Gebäudes sah sie gerade noch eine Gestalt verschwinden, den Zipfel eines Mantels, eine stiefelbewehrte Ferse. Den Saum einer Kapuze, Modell Dame.
Kirstens Handy klingelte. Auf dem Display leuchtete der Name ihrer Schwägerin, sie hob ab.
»Na, wie ist es im hohen Norden?« Mit ihrer herzlichen Art gelang es Monika, das Quecksilber ein paar Grad nach oben zu schrauben und Kirstens Unruhe für einen Moment zu verdrängen. »Hast du noch alle Zehen, oder sind sie dir schon abgefroren?«
»Noch nicht, aber wenn dieses Telefonat länger als zwei Minuten dauert, kannst du es live miterleben.«
»Was treibt mein Patenkind?«
»Vergnügt sich mit seinem Großvater. Wahrscheinlich kriechen sie gerade in irgendwelchen Minenschächten herum. Ich fürchte fast, das blüht uns auch noch.«
Monika lachte. »Ich bin ja schon so gespannt!«, sagte sie, während im Hintergrund Wasser rauschte. »Ich habe sogar heute schon gepackt, obwohl es ja noch einige Tage hin ist! Erland ist gerade los, um von Elisabeth einen Koffer abzuholen. Aber eigentlich rufe ich wegen etwas anderem an: Hat Fredrik mit dir über seine Pläne für die Bank gesprochen?«
»Nein, sollte er das?«
»Ich weiß nicht. Elisabeth hat nur, als sie eben wegen des Koffers angerufen hat, so komisch gefragt. Weshalb du plötzlich dermaßen früh nach Spitzbergen geflogen wärst. Du bist eben ein spontaner Mensch, hab ich ihr gesagt, aber das scheint sie nicht überzeugt zu haben. Sie wollte wissen, ob du mit Fredrik etwas unter vier Augen zu besprechen hättest.«
»Hab ich nicht. Und selbst wenn, was sollte ich denn mit Fredrik wegen der Bank besprechen wollen?«
»Keine Ahnung, ich wollte es dir nur sagen.«
»Das nächste Mal sagst du unserer lieben Stiefschwiegermutter einfach, sie soll mich direkt anrufen, wenn sie etwas von mir wissen will«, riet Kirsten, wohl wissend, dass die stets auf Harmonie bedachte Monika solche Zurechtweisungen nur schwer über die Lippen brachte. Daran änderte selbst die Tatsache, dass die beiden sich nicht ausstehen konnten, nichts: Monika hielt Elisabeth für intrigant und rücksichtslos, und Elisabeth fand, Monika habe ein eher schlichtes Gemüt. Für Kirsten schlug sich die Essenz ihrer Gegensätze in der Wahl ihrer Lieblingsfarben nieder: Elisabeths Farben waren Eisblau und Silber, während Monika Bordeaux favorisierte. Eines von Kirstens besten Gemälden zeigte eine Frau, in einen roten Poncho gekleidet, in einer von Gletscherblau geprägten Winterlandschaft. Sie trug eine silberne Kette um den Hals, deren zerfranstes Ende hinter ihr herschleifte, eine dunkler schattierte Spur in den makellosen Schnee
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