Ins Eis: Roman (German Edition)
riss, auf dem ihre Füße keine Tritte hinterlassen hatten. Kristoffer hatte sie gedrängt, das Bild Monika zu schenken, aber Kirsten hatte abgelehnt. Stattdessen hatte sie es bei ihrer Vernissage in Frankfurt im vorigen Winter für eineinhalbtausend Euro an die Tochter eines bekannten deutschen Filmregisseurs verkauft.
In Kirstens Rücken ging die Tür auf. Eine hochgewachsene Frau mit heller, glatter Haut und breiten Wangenknochen war ins Freie getreten und nickte ihr vom Eingang aus zu.
»Monika, ich muss jetzt Schluss machen. Wir sehen uns in drei Tagen, okay? Und mach dir wegen Elisabeth keine Gedanken, sie mag es nur nicht, wenn sie überrascht wird. Unsere frühe Anreise hat sie eben irritiert.«
»Wie du meinst, ich wollte dich nur warnen. Grüß Jonas lieb von mir!«
»Mach ich. Bis bald!« Kirsten wandte sich ihrer Verabredung zu.
»Tut mir leid, dass es gedauert hat, aber es kam noch ein Anruf, und den konnte ich nicht einfach abwürgen.« Ingrid Solberg, die Ärztin, an die der Gouverneur Kirsten verwiesen hatte, zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum Kinn. Statt Winterstiefeln trug sie Langlaufschuhe. »Das Café ist hier gleich rechts im Lompensenter. Kommen Sie, Sie sind ja schon ganz durchgefroren!«
Das Café in der Ladenpassage war gut besucht, sie ergatterten den letzten freien Tisch direkt neben dem Eingang. Kirsten bestellte sich einen Cappuccino und Schokoladenkuchen mit Sahne. Seit sie den fehlenden Schatten auf dem Foto bemerkt hatte, hatte sie nichts mehr gegessen. Im Café war es so warm, dass sie bald ihren Pullover ausziehen musste. Als sie ihn über die Stuhllehne hängte, fiel ihr Blick auf eine hünenhafte Silhouette an einem der Tische am Fenster. Der Pullover entglitt ihren Händen und fiel zu Boden, gleichzeitig stellte sie fest, dass Ingrid Solberg etwas gesagt und sie nicht zugehört hatte.
»Tut mir leid, ich war gerade abgelenkt. Der Mann, der dort hinten sitzt: Wir hatten eine etwas unfreundliche Begegnung am Flughafen.«
Die Ärztin folgte Kirstens dezentem Fingerzeig. »Das ist Lennart, ein Alteingesessener. Er rumpelt ein bisschen, aber er ist harmlos.«
»Ich sehe ihn jetzt schon zum dritten Mal. Ehrlich gesagt fühle ich mich ein wenig verfolgt.«
»Ah, eine Großstädterin! Wir sind hier nur zweitausend Leute, da sieht man immer die gleichen Gesichter, Kirsten. Kirsten stimmt doch, nicht wahr?«
Kirsten riss ihre Aufmerksamkeit von dem Hünen los und wandte sich Ingrid zu. Sie nickte.
»Dann bist du also Fredriks Schwiegertochter. Die, von der er geschrieben hat.«
Die persönliche Ansprache irritierte Kirsten. Sie hatte sich als Kristoffer Stolts Ehefrau vorgestellt und kurz den Grund ihres Besuchs erwähnt: mehr über Hypothermie zu erfahren und Ingrids Einschätzung als Ärztin, die Kristoffers Leiche untersucht hatte, zu hören. Von Fredrik war nicht die Rede gewesen.
»Du kennst Fredrik?«
»Natürlich. Hat er dich nicht zu mir geschickt?«
»Nein, das war der Gouverneur.«
»Und meinen Namen kanntest du auch nicht?«
»Tut mir leid, sollte ich das?«
»Nicht unbedingt, aber ich dachte, da wir nächste Woche viel Zeit miteinander verbringen werden, hätte Fredrik seine Familie vielleicht vorgewarnt. Immerhin bin ich, wenn ich das richtig überblicke, das einzige Nicht-Familienmitglied, das eingeladen ist.«
»Fredrik hat dich zu seinem Geburtstag eingeladen? Wieso das denn?« Kirsten unterbrach sich. »Entschuldige, ich glaube, ich bin gerade sehr unhöflich. Ich bin nur etwas verwirrt. Ich wusste nicht, dass Fredrik noch weitere Leute eingeladen hat. Und wieso soll er dir von mir geschrieben haben?«
»Meine Schuld. Ich war einfach davon ausgegangen, du wärest im Bilde, aber egal.« Ingrid wedelte mit der Hand. Sie hatte ihre rötlich blonden Haare nach hinten gekämmt und mit einer Spange befestigt. In ihrem linken Nasenloch glitzerte ein bläuliches Stecknadelkopfpiercing. Sie war einen Kopf größer als Kirsten, nicht so athletisch wie Oda, dafür mit breiten Hüften und einem vollen Busen. Schlank, ohne modelschlank zu sein, keine Schönheit, aber mit ebenmäßigen Gesichtszügen und weit auseinanderstehenden, leicht länglichen graublauen Augen. Kirsten schätzte sie auf Mitte dreißig.
»Fredrik hat meine Ausbildung finanziert«, erklärte die Ärztin. »Ich kenne ihn, seit ich ein kleines Mädchen war. Ich bin hier geboren; mein Vater hat Ende der Siebziger in Longyearbyen mit Fredrik zusammen für Store Norske gearbeitet. Meine
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