Ins Eis: Roman (German Edition)
Eltern sind beide früh verstorben, danach hat Fredrik mir geholfen, mein Studium zu finanzieren.«
Kirsten konnte sich nicht erinnern, dass diese Geschichte in der Familie jemals erwähnt worden war.
»Fredrik und ich hatten nie eine enge Beziehung«, setzte Ingrid hinzu, die Kirstens Irritation auf ihrem Gesicht zu lesen schien. »Manche Leute übernehmen Patenschaften für afrikanische Waisen, und ich schätze, für Fredrik war ich so etwas Ähnliches, nur dass er eben meine Eltern gekannt und sich daher wohl irgendwie verantwortlich gefühlt hat. Glaub mir, mich hat Fredriks Einladung selbst am meisten überrascht. Seine Unterstützung war damals rein finanzieller Natur. Seit Jahren beschränkt sich unser Verhältnis auf ausführliche Weihnachtskarten. In denen hat er manchmal auch dich erwähnt. Wann hast du Kristoffer geheiratet?«
»Das war 2006. Kennengelernt haben wir uns drei Jahre früher.«
»Da war ich bereits mit dem Studium fertig und habe in Tromsø an der Klinik gearbeitet. Wie gesagt, das ist alles lange her.«
»Seit wann bist du wieder in Longyearbyen?«
»Seit letztem Jahr. Ich wäre gerne schon früher zurückgekehrt, aber es gab keine Stelle für mich, und man muss, um hier am Krankenhaus arbeiten zu können, eine gewisse Berufserfahrung vorweisen. Mein Mann arbeitet an der Universität; wir haben vor einem Jahr geheiratet.« Zum ersten Mal lächelte Ingrid. Sie hob die Hand mit ihrem Ehering und zeigte ihren Ringfinger.
»Hast du denn auch meinen Mann gekannt?«, wollte Kirsten wissen, den Blick auf den breiten Silberring geheftet.
»Kristoffer habe ich erst letztes Jahr kennengelernt. Vorher hatte ich nur mit Fredrik Kontakt, und bei Kristoffers früheren Reisen nach Spitzbergen hätten wir uns eh nicht über den Weg laufen können, weil ich da in Tromsø gelebt habe. Wir haben uns ein paar Mal getroffen, meistens hier, in diesem Café. Er war nicht schwer zu erkennen, die Ähnlichkeit mit seinem Vater war verblüffend. Es hat mich sehr mitgenommen, plötzlich vor seiner Leiche zu stehen. Auf jeden Fall war ich froh, dass nicht ich Fredrik anrufen und es ihm sagen musste.«
Kristoffer Stolt, Sohn von Fredrik Stolt. Verunglückt. Es war damals nicht Kirsten gewesen, die zuerst verständigt worden war, sondern ihr Schwiegervater. Fredrik war nach dem Anruf direkt von Köln zu ihr nach Frankfurt gefahren. Wie überrascht sie gewesen war, beim Öffnen der Tür ihn vor sich zu sehen! Jonas hatte sich auf seinen Großvater stürzen wollen, aber beim Anblick von Fredriks Gesicht hatte er abrupt gebremst. Seine Finger hatten sich in Kirstens Rock gekrallt. »Kristoffer hatte einen Unfall«, hatte Fredrik gesagt.
Ingrid entschuldigte sich für ihren letzten Kommentar. Das sei nicht passend gewesen, immerhin stehe ihr Entsetzen in keinem Vergleich zu Kirstens Leid oder dem ihrer Familie. Kirsten winkte ab, doch Ingrid insistierte: »Ich bin Ärztin, solch unangemessene Kommentare dürfen mir nicht entwischen. Das ist nicht nur anstandslos, sondern auch unprofessionell. Aber Kristoffer war mein erster Todesfall auf Spitzbergen, zumindest der erste, der in meiner Schicht hereinkam.«
»Wie kam es, dass du ihn untersucht hast? Weil du ihn gekannt hast?«
»Nein, das war purer Zufall. Ich hatte Dienst an dem Tag, als sie seine Leiche bargen.«
»Der Gouverneur hat mir ein wenig über Hypothermie erzählt.«
»Es gibt verschiedene Stadien der Unterkühlung. Ich habe einen sehr guten und umfassenden Artikel dazu, den kann ich dir nächste Woche mitbringen, wenn du magst. Er ist auf Englisch und erklärt auch die physiologischen Abläufe.«
»Sie sagten mir, er habe seine Jacke ausgezogen.«
»Ich weiß. Es klingt paradox, aber das geschieht tatsächlich häufig. Bei fortschreitender Unterkühlung meinen die Opfer oft, es sei ihnen zu heiß, und ziehen sich aus. Zu diesem Zeitpunkt, wenn sie so verwirrt sind, können sie sich schon nicht mehr selbst retten. Es kann nur noch Hilfe von außen kommen, ansonsten sterben sie.«
Kirsten drehte ihre Gabel in der Sahne des unberührten Schokoladenkuchens. »Wieso hast du dich überhaupt mit Kristoffer getroffen?« Sie stellte fest, dass ihre Frage zickig klang, und schob nach: »War es wegen der Feier oder vielleicht wegen des Geschenks, das Kristoffer für Fredrik geplant hatte?«
»Das Album über Fredriks Leben? Ja, genau. Deswegen haben wir uns im Sommer auch getroffen. Ich habe ihm versprochen, einen Beitrag zu schreiben und ein paar alte
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