Ins Eis: Roman (German Edition)
Abenteuer ihren Lauf nahmen – Fredrik wollte seine Gäste erst am nächsten Tag in das geplante Programm einweihen –, stahl sich Kirsten nach draußen, um nach Jonas zu sehen. Bei ihrer Rückkehr eine halbe Stunde später hatte der Countdown zu Fredriks Jubiläum begonnen. Sowie der Zeiger auf Mitternacht sprang, ging das Licht aus, und der Koch brachte eine dreistöckige Torte herein. Wunderkerzen brannten auf ihrer Spitze. Anstelle von Kerzen oder einer gemalten 75 zierte ein Zuckergussschriftzug jede Tortenebene. Auf dem untersten Stockwerk stand Oslo geschrieben, auf dem mittleren Longyearbyen, auf dem obersten Köln. Es war ein sehr vertrautes Lächeln, das Elisabeth und Fredrik wechselten, während er die Schriftzüge las und Champagnerkorken knallten. Erland stimmte ein norwegisches Geburtstagslied an, in das Trond und Ingrid einfielen, danach folgte Happy Birthday. Sie schlachteten die Geburtstagstorte.
Während sich Kirstens Gabel durch mehrere Schichten Sahne und Schokolade grub, hatte Tobias eine der Champagnerflaschen zu sich gezogen. In der Zeit, die er brauchte, um sein Tortenstück in sich hineinzuschaufeln, leerte er sein Glas dreimal, bis Hartmut die Flasche nahm und sie ostentativ von seinem Sohn wegstellte. Tobias blähte die rot gefleckten Backen auf und stürmte, seine Jacke in der Hand, nach draußen. Durch das Fenster konnte Kirsten beobachten, wie er um eine Ecke verschwand und nach zwei Minuten wieder ins Blickfeld geriet, jetzt einen glühenden roten Punkt vor seinem Mund. Dann verschwand er abermals. Er blieb über zwanzig Minuten weg, was Kirsten bemerkenswert fand, da seine Handschuhe nach wie vor auf einem Brett neben der Garderobe lagen und es draußen minus dreizehn Grad kalt war. Als Tobias zurückkehrte, schwankte er leicht, Kerzenflammen irrlichterten in seinen Pupillen. Zehn Minuten später begann er einen Streit mit seinem Vater.
Kirsten hätte im Nachhinein nicht sagen können, wie die Auseinandersetzung losging. Sie war in ein Gespräch mit Ingrid vertieft, die sich tatsächlich an ihr Versprechen erinnert und ihr einen Artikel über Hypothermie mitgebracht hatte, daher wurde sie erst aufmerksam, als Hartmut Tobias am Arm griff und unmissverständlich auf die Tür zuschob. Tobias wehrte sich. Elisabeth trat dazwischen und hakte sich bei ihrem aufgebrachten Neffen unter. Ihre besänftigenden Worte drangen nicht an Kirstens Ohren, was keinen Unterschied machte, denn Elisabeths Bemühungen blieben erfolglos.
»Lass doch, Tante Elisabeth, Hartmut spielt sich doch nur auf«, höhnte Tobias laut genug, um alle Gespräche verstummen zu lassen. Er nannte seine Eltern seit einigen Jahren nur noch beim Vornamen, was diese unglaublich erboste, aber darüber hatten sie keine Gewalt. »Mein lieber Vater muss sich von Zeit zu Zeit etwas aufpumpen, um sich sein Selbstverständnis zu bewahren, und dazu sucht er sich immer die aus, bei denen er meint, am längeren Hebel zu sitzen.«
»Du bist betrunken, Junge«, knurrte Hartmut, »mal wieder. Hattest du nicht ein Abkommen mit deiner Mutter? Kann man sich bei dir auf überhaupt nichts verlassen?«
»Du machst es ihm aber auch immer schwer!«, fuhr Tanja prompt ihrem Mann über den Mund.
Kirsten spürte, wie jemand ihre Aufmerksamkeit suchte, drehte den Kopf und blickte in Monikas traurige Augen. Fredrik erschien neben den Streithähnen, schob Elisabeth aus der Schusslinie zwischen Vater und Sohn, ignorierte beide und fixierte stattdessen Tanja. »Tanja, statt deinem Mann die Schuld an allem zu geben, könntest du einmal ernsthaft versuchen, deinem Sohn bei der Bewältigung seiner Drogenprobleme zu helfen.«
»Was fällt dir ein?«, kreischte Tanja los. »Eine solche Behauptung ist eine unglaubliche Unverschämtheit! Tobias nimmt keine Drogen. Nimm das sofort zurück!«
»Wenn Tobias mein Junge wäre, würde ich ihn nicht wie ein Baby behandeln, sondern ihn in die Gruben hier schicken, da würde er was fürs Leben lernen. Nicht nur Ausreden.«
»Hartmut, sag was! Das kannst du Fredrik nicht einfach durchgehen lassen.«
Hartmut erwiderte nichts, vielmehr holte er sich eine Lutschpastille aus einer kleinen runden Box und warf sich das Bonbon in den Mund, sein Gesicht war dunkelrot. Unsichtbar für Tanja und Tobias hatte Elisabeth ihrem Bruder die Hand auf den Rücken gelegt.
Fredrik drehte sich zu Tobias um. Wie zu erwarten war, hielt der Junge dem Blick des älteren Mannes nicht lange stand. »Ihr kotzt mich doch alle an!«, brüllte
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