Ins Eis: Roman (German Edition)
beziehungsweise den Mann, den sie für ihren leiblichen Vater hält. Sie hat sehr zärtlich von ihm gesprochen.«
»Und jetzt glaubst du, dass Fredrik – wie hast du es genannt? – in seinem Leben ›aufräumen‹ will? Dass er Ingrid anerkennen will, falls es denn stimmt und sie tatsächlich seine Tochter ist?«
Elisabeth goss sich Tee nach. Das helle Porzellan der Tasse wies einen winzigen Riss am Henkelansatz auf, Elisabeth kratzte mit dem Daumennagel über den Makel. »Was ich vermute – und das ist wirklich nur eine Vermutung –, ist, dass Fredrik die Gelegenheit nutzen möchte, um seine Beziehung zu Ingrid zu stärken. Womöglich will er ihr am Ende dieser Woche sogar eröffnen, wer ihre wahre Familie ist.«
Kirsten erschien zu spät zum Abendessen, weil sie noch bei Jonas geblieben war, bis sie sicher sein konnte, dass er tief und fest schlief. Als sie ankam, wurde der erste Gang gerade abgeräumt. Fredrik hatte sich erhoben und klopfte mit einem Löffel gegen sein Glas. Um nicht zu stören, blieb Kirsten im Eingang stehen. Der kleine Saal war hell erleuchtet, noch dazu brannten Kandelaber zwischen den Weingläsern. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf Fredrik, der mit dem Rücken zu Kirsten an der Spitze einer langen Tafel stand. Um den Tisch herum hatten neun Gäste Platz genommen. Elisabeth saß an der langen Tafelseite zu Fredriks Linken, es folgten ihr Bruder Hartmut und seine Frau Tanja. Tobias saß zwischen seiner Mutter und einem leeren Stuhl am hinteren Tischende, der wohl für Kirsten reserviert war. Auf der anderen Tischseite hatte Ingrid Solberg den Platz neben Fredrik eingenommen, flankiert von einem dunkelhaarigen Mittvierziger mit Geheimratsecken, den Kirsten nicht kannte. Offenbar Ingrids Ehemann Trond Solberg. Neben ihm schlossen sich Monika und Erland sowie Peter an.
Fredrik hob sein Glas. »Meine liebe Familie, liebe Freunde«, begann er, mit der Hand, die das Glas hielt, einen kleinen Halbkreis über den Tisch beschreibend. »Zunächst einmal möchte ich euch meinen Dank und meinen Respekt entbieten, weil ihr alle meinem zugegeben etwas exzentrischen Ruf in den höchsten Norden unseres Kontinents gefolgt seid. In dieses eisige Land, von dem ich ganz genau weiß, dass niemand unter euch jemals einen Fuß hineingesetzt hätte, wäre es nicht wegen mir. Das ehrt und freut mich zutiefst, denn es zeigt einmal mehr, worin unsere Stärke liegt: in unserer Geschlossenheit selbst in schwierigen Zeiten – oder, vielmehr in diesem Fall, an schwierigen Orten.«
Fredrik sprach Englisch, ein klares, akzentuiertes Oxford-Englisch, das es auch dem wenig Spracherprobten leicht machte, ihm zu folgen. »Ich weiß, dass die meisten unter euch ein wenig überrascht sind, zwei Gesichter an diesem Tisch zu sehen, die sie nicht kennen und die der Grund sind, weshalb ich nun Englisch spreche. Womit ich leider euch, liebe Familie, noch mehr Hürden baue an diesem Geburtstag, der es euch wahrlich nicht leicht macht, mich hochleben zu lassen.« Er verbeugte sich in Richtung der Damen am Tisch. Die Herren – Hartmut, Peter, Erland – mussten bei der Arbeit häufig Gespräche in der Fremdsprache führen, aber Kirsten wusste, dass Monika wenig Englisch sprach, und von Tanja nahm sie dasselbe an.
»Bitte erlaubt mir daher, alle Anwesenden kurz vorzustellen und zu erklären, wie es dazu kam, dass sich uns heute Ingrid und Trond Solberg angeschlossen haben.« Fredrik verließ seinen Platz und trat hinter Ingrid, wobei er ihr eine Hand auf die Schulter legte. Die Geste zog sofort einige Aufmerksamkeit auf sich, aber Ingrid lächelte nicht einmal verlegen. Sie griff nach ihrem Weinglas und nahm einen Schluck, ihre Rechte über der ihres Mannes, die Finger mit seinen verschlungen.
»Ihr alle wisst, dass Svalbard – Spitzbergen, wie man diese Inselgruppe in Deutschland nennt – zweimal in meinem Leben meine Heimat war. Ich kann sehen, wie ihr bei diesem Gedanken zusammenzuckt. Heimat, danach sieht es zunächst nicht aus. Monatelange Polarnacht, gewaltige Stürme, die Isolation … Damals, so scheint mir, war es sogar noch dunkler als heute, aber das mag am Ruß liegen, der allgegenwärtig war und wegen dem es noch heute in Longyearbyen Brauch ist, sich beim Betreten eines Gebäudes die Schuhe auszuziehen. Ruß und Schnee, was für eine Kombination! Trotzdem war Svalbard damals bereits einen zweiten Blick wert. Ich kam als junger Mann mit gerade einmal neunzehn Jahren hierher. Mehr als drei Winter verbrachte ich
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