Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ins Eis: Roman (German Edition)

Ins Eis: Roman (German Edition)

Titel: Ins Eis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Nieberg
Vom Netzwerk:
baute. Es war eine Sisyphusarbeit, was den Jungen aber nicht bekümmerte. Jonas hatte sich um Kirstens Verbot, nach draußen zu gehen, gedrückt, indem er Tim abgepasst und ihn gefragt hatte, ob er nicht zu Bridgestone dürfe. Tim, der das Geschrei im Salon mitbekommen hatte, war nur allzu gewillt gewesen, das Schiff und seine aggressive Atmosphäre zu verlassen, und sei es für ein paar Minuten. Er hatte Jonas von oben bis unten eingemummelt, bis vom Gesicht des Kleinen gar nichts mehr zu erkennen war, dann hatte er ihn mit nach draußen genommen. Kirsten hatte wortlos zugeschaut, wie sie durch den Salon eilten, wo der Möhrenkuchen praktisch unangetastet stand. Kurz darauf hatte sie ihre eigene Jacke geholt. Eigentlich hätte sie Jonas schimpfen müssen, weil er Tim benutzt hatte, um das mütterliche Verbot auszuhebeln, kindliche Trickserei, während Erwachsene folterten. Stattdessen hatte sie ihm bloß die Kapuze unter dem Kinn zugeschnürt. »Wo ist Onkel Erland?«, hatte er sie gefragt, während er sie eine Schlaufe binden ließ.
    »Onkel Erland«, antwortete Kirsten nach einer Pause, »ist unterwegs, um Papa zu suchen.«
    Jonas nickte ernsthaft und setzte seine Arbeit am Schneewall fort.
    »Ich glaube nicht, dass du wissen willst, was los war«, sagte Kirsten danach zu Tim. »Die Nerven liegen blank. Verständlicherweise.«
    »Welche der Damen hat so geschrien?«
    »Monika.«
    Tim zündete sich eine weitere Zigarette an. Im Schnee vor seinen Füßen steckten bereits zwei Stummel. Bridgestone beobachtete Jonas’ Versuche, ihn vor dem Sturm zu schützen, mit verständnisloser Teilnahmslosigkeit. Kurz darauf trampelte der Junge im Eifer des Gefechts auf den Kopf des zweiten Leithunds in Tims Team. Jaulend schoss dieser aus seiner flachen Schneehöhle. Jonas erstarrte, ängstlich. Tim ging zu ihm, klopfte dem malträtierten Hund begütigend auf die Seite und ermahnte Jonas, besser aufzupassen.
    »Ich hätte Erlands Faszination für das Gewehr ernster nehmen müssen«, sagte er, kaum dass er sich wieder neben Kirsten in den Schutz der roten Hülle der »Noorderlicht« schob.
    »Erland war ein erwachsener Mann. Ein Mann weiß, dass er nicht einfach die Waffe eines anderen nehmen darf.«
    »Das ist es ja. Ich hatte den Eindruck, Erland wäre ein Mensch, der stets nach den Regeln spielt, die man ihm setzt.«
    »Hat Fredrik dir das so gesagt?«
    »Kirsten, ich habe vielleicht nicht studiert, aber ich bin nicht blöd. Ich hab auch was im Kopf. Nicht zuletzt Augen und Ohren.« Er sog heftiger an seiner Zigarette. Vor ihnen brandete der Schnee vorbei, verschluckte den Blick auf die Bergkulisse. Ein ungemütlicher Ort, der von Minute zu Minute dunkler und feindlicher wurde. Kirsten rief Jonas zu, sie würden in fünf Minuten wieder hineingehen. Ihr selbst war kalt, und sie hüpfte auf der Stelle, die Arme um sich geschlagen.
    »Und wenn es kein Unfall war?«, fragte Tim.
    »Was soll es denn sonst gewesen sein? Mord?«
    »Erland und dein Mann. Zwei Brüder, die innerhalb weniger Monate sterben. Wie groß ist denn die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert? Dir mag dieser Ort wie der Inbegriff des neuen Wilden Westens erscheinen, aber faktisch sterben auf Spitzbergen nur sehr wenige Leute. Das, was mit deiner Familie passiert ist, ist nicht normal.«
    »Niemand hat Kristoffer die Kleider vom Leib gerissen. Er ist nicht erschossen worden. Es war ein Unfall. Das habe ich schwarz auf weiß.«
    Tim war taktvoll genug, sie nicht darauf hinzuweisen, dass es ihre eigenen Zweifel, ihre Fragen und ihr Unverständnis gewesen waren, die sie nach Spitzbergen getrieben hatten.
    »Und Erland? War das auch ein Unfall?« Tim drückte sich vom Schiffsrumpf ab. Er löschte seine letzte Zigarette im Schnee und sammelte die übrigen zwei Stummel ein. »Versteh mich nicht falsch, aber manchmal möchte man meinen, in eurer Familie hätte jeder ein Motiv, jeden anderen zu ermorden.«
    Am Abend war es Tanja, die das Grauen in den Raum warf. Wenigstens wartete sie bis nach dem Dessert, bis Monika und Fredrik in ihren Kajüten verschwunden waren und Oda, Tim und die Crew sich in den Mannschaftsraum zurückgezogen hatten. Kirsten hatte Jonas gerade ins Bett gebracht.
    »Wo wart ihr eigentlich alle, als es passiert ist?« Tanja hielt ihren im beigen Rolli steckenden Oberkörper nach vorne gelehnt, die Lippen waren einen hungrigen Spalt breit geöffnet. Die Haltung gab ihr die Aura eines zum Sprung ansetzenden Tieres. »Wieso hat niemand aufgepasst,

Weitere Kostenlose Bücher