Ins Eis: Roman (German Edition)
sie hatten das einzige Fenster mit einigermaßen gutem Wetter erwischt. Jetzt zog bereits die nächste Schlechtwetterfront heran, ein Sturm mit orkanartigen Böen. Heute würde niemand mehr Longyearbyen verlassen, die Gruppe würde eine weitere Nacht auf dem Schoner verbringen. Die polizeiliche Untersuchung des Unglücks würde warten müssen, bis der Sturm sich abschwächte.
Mit Ingrids Hilfe brachte Kirsten Monika nach unten in ihre Kabine, wo sie sie ins Bett legten und Ingrid ein weiteres Mal den Inhalt ihrer gelben Notfallmedizintasche auspackte. Sie hielt ein Fläschchen mit einer klaren Flüssigkeit darin gegen das Licht und seufzte.
»Wie geht es Fredrik?«, fragte sie. »Ist er in Ordnung?«
»Nein, in Ordnung ist er nicht. Aber er ist gefasst. Er ist mit Jonas in seiner Kabine. Er wird sich vor dem Kleinen nicht gehen lassen, dafür ist er trotz allem zu stark.«
»Es ist gut, dass Jonas hier ist.«
In Kirstens Ohren klang das wie Hohn, obgleich sie verstand, was Ingrid meinte. Sie jedenfalls würde sich heute zusammen mit ihrem Kind in eine Koje quetschen, die tröstliche Wärme ihres Sohns die ganze Nacht an ihrer Haut spüren. Ihn nicht loslassen. Sich einreden, sie wären daheim, hinter festen Wänden, wo Heizungen leise summten, Hunde bellten, wenn sie Katzen sahen, und aus dem Telefonhörer das beruhigende Brummen von Erlands Stimme erscholl.
Am Nachmittag richtete die Köchin Kaffee und Kuchen an, verkroch sich danach jedoch mit ihren Kollegen im Mannschaftsraum. Kirsten konnte es ihnen nicht verdenken. Wer würde diese traurige Geburtstagsgesellschaft nicht gerne meiden? Sogar sie hätte sich wohl nicht so bald aus ihrer Kabine bewegt, hätte nicht Elisabeth an ihre Tür geklopft und sie nach oben gebeten. Weil sie Monika doch näherstehe als alle anderen, wie Elisabeth fast flehend formulierte. Jonas blieb mit einem Bilderbuch, einem Puzzle und einem Stück Kuchen in der Kajüte. Er schmollte, weil Kirsten ihm untersagt hatte, bei dem aufbrandenden Sturm nach draußen zu Bridgestone zu gehen.
Am Anfang verlief das Kaffeetrinken schweigend. Monika, bleich mit dunkel geränderten Augen, strich mit beiden Handballen über das Holz des Tisches, ruhelos gegeneinander kreisende Endlosschleifen. Oda hatte ihr einen Arm um die Schultern gelegt. Fredrik saß auf der Bank auf der anderen Seite des Raums, starrte durch ein Bullauge hinaus ins Freie, wo erneut heftiges Schneegestöber eingesetzt hatte und sich die Sicht nach dreißig Metern erschöpfte. Eine dampfende Tasse Kaffee stand neben ihm; er rührte sie nicht an. Tobias hatte sich als Einziger ein Stück Möhrenkuchen genommen. Er aß in untypisch kleinen Bissen, hochkonzentriert. Die Krümel, die von der Gabel auf den Tisch fielen, tupfte er mit den Fingerspitzen auf. Bis auf Jonas und Tim, der Kirsten im Gang mit lediglich einem Handtuch um die Hüften auf dem Weg zur Dusche begegnet war, waren sie vollständig.
»Wie schmeckt der Kuchen?«, fragte Ingrid, als die Stille gar zu drückend wurde.
»Schön saftig«, murmelte Tobias. Ingrid nahm sich ein Stück und reichte Kirsten ohne zu fragen einen Teller mit einem zweiten. Kirsten hatte sich an Monikas freie Seite geschoben. Oda sah müde aus, älter und von den Witterungen des Lebens gezeichnet, eher wie man es sich von Menschen in der Arktis erwartete. Ihr Julia-Roberts-Mund hatte sich in einen blassen Strich verwandelt. Kirsten nahm sich eine Gabel und steckte sie in den Möhrenkuchen. Die Gabel blieb senkrecht stecken; sie konnte sich nicht zu einem Bissen durchringen.
»Ich habe mit Longyearbyen telefoniert«, sagte Oda. »Der Sturm scheint nicht ganz so schlimm zu werden wie befürchtet, trotzdem wird niemand vor morgen Vormittag ausrücken. Der Gouverneur sagte, sie planen, euch morgen alle zusammen mit dem Helikopter nach Longyearbyen zu evakuieren. Um die Hunde und die Schlitten werden wir uns mit seinen Männern zusammen kümmern.«
»Was ist mit den Hunden, die wir bei den Zelten zurückgelassen haben?«, fragte Hartmut. »Erlands Hunden.«
»Denen wird es gut gehen, keine Angst. Die werden viel schlafen.«
»Und wenn sie sich losreißen und die Leiche fressen?«
»Hartmut!«, schrie Monika auf, sich die Hände vor das Gesicht schlagend. Sie gab einen komischen Laut von sich, weder Stöhnen noch Kreischen, sondern etwas Namenloses, im Nachhall dessen sich Sprache entsetzt verkroch. In der ersten Nacht, die Kirsten auf der »Noorderlicht« verbracht hatte, hatte das Schiff
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