Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle (Ein Pippa-Bolle-Krimi) (German Edition)
tun, die Mandy in diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnt hatte?
Weit nach Mitternacht vernahm Pippa schwere, unregelmäßige Schritte im Stockwerk über ihr. Sie hielt inne und horchte. Christabel war noch auf und bewegte sich mit Hilfe ihres vierfüßigen Stocks fort. Die harten Gummifüße der Gehhilfe klangen dumpf auf dem Dielenboden des alten Hauses.
Sie kann nicht schlafen, dachte Pippa. Kein Wunder: die Morde, Florian, die geschlossene Manufaktur. Und jetzt auch noch die Angst, dass ihre Vergangenheit und die der zwangsadoptierten Kinder etwas mit den Morden zu tun haben könnten.
Als Pippa mit der Sonderausgabe des Ciconia Courier zum Gutshaus gekommen war, hatte sich gerade eine fünfköpfige Delegation von Werksangehörigen und Heimarbeitern eingefunden, um die aktuelle Situation mit Christabel zu besprechen und nach Lösungen zu suchen.
Pippa hatte die Runde im Esszimmer mit Getränken und Knabbereien versorgt, bevor sie sich dazusetzte, um das Gespräch zu protokollieren. Danach hatte Christabel sich in ihren begehbaren Safe zurückgezogen und Pippas Bitte, sich hinzulegen, barsch mit den Worten zurückgewiesen, im Safe befände sich ein bequemes Sofa. Pippa hatte das Protokoll bei Florian abgetippt und vervielfältigt, da die Werksgebäude von der Polizei immer noch nicht wieder freigegeben worden waren. Julius und Florian übernahmen es, jedem von Christabels Mitarbeitern in Storchwinkel, Storchentramm und Storchhenningen ein Exemplar auszuhändigen, denn Pippa zog es zurück zu Christabel. Sie wollte in Rufweite der alten Dame sein, da sie sich um das Ausmaß von Christabels Erschöpfung Sorgen machte.
Um sich abzulenken, hatte Pippa nacheinander mit ihren Eltern, ihrer Großmutter und ihrer besten Freundin Karin telefoniert, die sämtlich Freddys Liebeskummer wegen Tatjana in herzzerreißenden Worten schilderten. Offenbar ließ ihr kleiner Bruder die gesamte Transvaalstraße 55 an seinem Unglück teilhaben. Als sie endlich Tatjana selbst an die Strippe bekam, stellte sich heraus, dass diese von Freddys Gefühlen nicht das Geringste mitbekommen hatte.
»Das tut mir so leid für Freddy«, hatte Tatjana entschuldigend gesagt, »aber er ist einfach kein Mann für mich. Wenn ich etwas geahnt hätte, wäre ich selbstverständlich sofort auf Abstand gegangen und hätte mit ihm darüber geredet.«
»Das Ergebnis wäre dasselbe«, hatte Pippa erwidert, »mein kleiner Bruder ist traditionell leicht entflammbar. Außerdem: Wenn einer sich verliebt und der andere nicht, dann nützt freundliches Verständnis vom Nichtverliebten so gut wie gar nichts. Wir wissen doch alle, wie sich das anfühlt.«
Als sie nun tief in der Nacht erst die Stahltür des begehbaren Safes und dann Christabels Schlafzimmertür zuschlagen hörte, musste Pippa sich beherrschen, nicht sofort nach oben zu gehen. Christabel hatte darauf bestanden, bis zum nächsten Morgen ungestört zu bleiben, und auch die Hilfe beim Auskleiden abgelehnt. Sie wollte völlig unbehelligt sein: keine Telefonate, keine Musik, kein Besuch – selbst das Abendessen hatte Pippa lediglich vor der Tür abstellen dürfen, was bei ihr den Eindruck verstärkte, dass die alte Dame vor allem auch ihr aus dem Weg gehen wollte.
Pippa seufzte und nahm die ausgedruckten Rechercheergebnisse noch einmal der Reihe nach in die Hand und studierte einige Passagen, die sie mit einem Textmarker angestrichen hatte.
Die Wahrheit war, dass gewaltsame Familientrennungen in der ehemaligen DDR keine Seltenheit gewesen waren. Belegt waren mehr als fünfundsiebzigtausend Inkognito-Adoptionen, bei denen man den leiblichen Eltern nicht gesagt hatte, wohin ihre Kinder vermittelt wurden. Das betraf nicht nur Menschen, die etwa wegen Republikflucht verurteilt und von der Bundesrepublik freigekauft worden waren, sondern auch solche, die als gemeinschaftsunfähig eingestuft wurden, weil sie zum Beispiel ihre Arbeit verloren hatten. Das war Grund genug für die Behörden, ihnen das Recht auf die Erziehung ihrer Kinder zu nehmen. In der Ideologie der DDR galt Kindererziehung nicht als Privatsache. Die Adoptionen wurden vom Jugendhilfeausschuss beim Rat der Stadt beschlossen, der dazu keine Einwilligung der Mutter oder der Eltern benötigte. Ein besonders perfider Auswuchs dieser Praxis waren die Neugeborenen, die angeblich bei oder kurz nach der Geburt verstorben waren. Pippa hatte im Internet Aussagen von Müttern gefunden, die ihr totes Kind nie zu Gesicht bekommen hatten, aber sicher
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