Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle (Ein Pippa-Bolle-Krimi) (German Edition)
sein. Wieso adoptiert man einen erwachsenen Mann?
»Seit der Adoption beziehungsweise der Aufnahme in unsere Familie geht es mit ihm langsam bergauf.« Christabel hielt kurz inne und räusperte sich. »Er trinkt keinen Tropfen Alkohol mehr, und mittlerweile trifft er sogar ab und zu eigene Entscheidungen. Aber genau vor diesen Entscheidungen habe ich Angst. Besonders dann, wenn er sie aus einem Ohnmachtsgefühl heraus trifft.«
»Was könnte das mit den Plagiaten zu tun haben?«, fragte Pippa.
»Das sollen Sie herausfinden. Und mir haarklein berichten.« Wieder seufzte die alte Dame. »Ich hoffe, ich lebe noch lange genug, bis Julius sich endlich voll für sich selbst verantwortlich fühlt und sich auch so benimmt.«
»Soll er in Ihre Fußstapfen treten?«
»In der Firma? Nein, die wird der Sohn meines Mannes erben.« Sie nahm die Kaffeetasse und trank in kleinen Schlucken, während sie nachdenklich aus dem Fenster blickte.
Natürlich, dachte Pippa, das ist nur gerecht. Allerdings wirkt Severin junior auf mich nicht so, als wäre er sonderlich scharf darauf.
Christabel wandte sich wieder Pippa zu und lächelte. »Aber wir reden unausgesetzt von mir. Wie langweilig. Mein Leben kenne ich bereits zur Genüge. Erzählen Sie von sich, meine Liebe. Wieso sind Sie Übersetzerin – oder noch spannender: Haushüterin geworden? Familie, Freunde, Liebhaber – ich will alles wissen.«
Pippa warf den Kopf zurück und lachte laut. »Als ob Sie nicht schon längst alles wüssten!«
»Nur die Oberfläche«, erwiderte Christabel und kicherte. »Ich will wissen, was dahintersteckt.«
»Geht mir genauso – aber hat das nicht etwas mit langsam wachsendem gegenseitigen Vertrauen zu tun?«
»Vorschlag: Bei jeder Lesesitzung darf jede von uns der anderen eine Frage stellen, und sie bekommt eine ehrliche Antwort. Was halten Sie davon?«
»Sie haben meine Frage nicht beantwortet, Christabel.«
»Das habe ich auch nie behauptet.« Wohlwollend musterte die alte Dame ihr Gegenüber. »Ignoranz und Sturheit sind das Vorrecht der Alten. Was wir nicht hören wollen, hören wir auch nicht. Oder wir vergessen es sofort wieder.«
In gespieltem Bedauern schüttelte Pippa den Kopf. »Wie schade. Dann lohnt sich aber auch die ganze Vorleserei nicht, und ich kann gleich einpacken.«
»Touché, meine Liebe.«
Christabel sah Pippa erwartungsvoll an, und diese verstand, dass die alte Dame das Gespräch als beendet betrachtete. Sie schlug das Buch auf und las vor: »Kapitel eins. Unser Zeitalter ist seinem Wesen nach ein tragisches, also weigern wir uns, es tragisch zu nehmen …«
Während des Lesens sah sie über das Buch hinweg, dass Christabel, die sich mit geschlossenen Augen in die Kissen zurückgelehnt hatte, den Text leise mitsprach.
»… Es gibt keinen ebenen Weg in die Zukunft, aber wir umgehen die Hindernisse oder klettern über sie hinweg «, fuhr Pippa fort, und wieder fiel ihr Blick auf die sich synchron bewegenden Lippen Christabels.
Meine Güte, sie kennt das Buch auswendig, dachte Pippa und geriet darüber ins Stocken.
»Haben Sie die Zeile verloren?«, fragte Christabel und schlug die Augen auf. »Es geht weiter mit: Wir müssen leben, ganz gleich, wie viele Himmel eingestürzt sind .«
»Sie kennen das Buch ja bereits«, sagte Pippa beeindruckt, »und zwar Wort für Wort!«
Die alte Dame lächelte und nickte. »Meine Mutter hat mir Anfang 1961 eine der englischen Erstausgaben zukommen lassen, gleich, nachdem dieser lächerliche Prozess beendet und die unsinnige Zensur gegen das Buch endlich aufgehoben war. Das muss man sich einmal vorstellen: Mehr als dreißig Jahre lang durfte das Buch in England nicht gedruckt werden, weil es als pornographisch galt. Ich kann Bigotterie nicht ausstehen.«
Mehr als den ersten Satz hatte Pippa nicht mitbekommen. »Ihre Mutter?«, stammelte sie. »Englisch? 1961?«
Christabel drohte Pippa scherzhaft mit dem Finger. »Damit haben Sie Ihr Fragenkontingent der nächsten drei Tage ausgeschöpft, das ist Ihnen hoffentlich klar. Ihre Entscheidung …«
Mit einer Geste bat sie darum, das Tablett vom Bett zu nehmen, dann sagte sie: »Meine Mutter ist 1959 nach England zurückgegangen und bis zu ihrem Tod dort geblieben. Ich wollte sie erst begleiten, aber dann hing ich doch zu sehr am Storchendreieck. Und an meiner Arbeit.« Für einen Moment ging ihr Blick ins Leere. »Leider.«
»Meine Mutter ist ebenfalls Engländerin!«, rief Pippa erfreut. »Deshalb die vielen englischen
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