Ins Gras gebissen: Ein neuer Fall für Pippa Bolle (Ein Pippa-Bolle-Krimi) (German Edition)
bekannter Wanderprediger. Er lief grundsätzlich barfuß oder trug allenfalls Sandalen an den bloßen Füßen und lebte seit seiner Jugend vegetarisch. Seine Interessen waren vielfältig: Er gründete eine Partei, entwickelte eine eigene Rechtschreibung und schwor auf Naturheilkunde. Am Arendsee schuf er einen Zufluchtsort für Gleichgesinnte, von denen jedes Jahr Zehntausende zu ihm pilgerten, um von ihm zu lernen. Nagel baute eine Kurhalle, in der er selbst hergestellte Säfte und Naturprodukte verkaufte. Stell dir vor: Er war zeitweise sogar der größte Steuerzahler der Gegend!«
»War er auch ein Spökenkieker?«
»Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall galt er durch seine asketische Lebensweise als Sonderling, und die wurden damals nicht gern gesehen. Sein Paradiesgarten am Arendsee wurde von den NS-Behörden geschlossen. Heute wäre er vielleicht bei den Grünen, wer weiß. Oder er würde sich bei Greenpeace engagieren. Als Naturheilkundler hätte er mit Sicherheit eine volle Praxis.«
»Wie Heinrich, meinst du? War Gustaf Nagel verheiratet?«
»So weit ging die Askese dann doch nicht, dass er darauf verzichtet hätte.« Herr X kicherte. »Er war dreimal verheiratet. Von seinen vier Söhnen hat er allerdings nur die drei aus seiner zweiten Ehe anerkannt.«
»Und Heinrich?«
»Heinrich war einmal verheiratet.« Herr X wurde ernst. »Und er hatte einen Sohn, aber der ist gestorben. Als Baby, gleich nach der Geburt. Heinrichs Frau hat den Verlust nicht verkraftet. Die beiden haben sich ein Jahr später getrennt.«
Wie tragisch, dachte Pippa und fragte dann: »Woran ist das Kind gestorben?«
Herr X konnte die Frage nicht hören, denn er bog in einen kleinen Waldweg ein, den ein gelbes Schild als Verbindung nach Storchhenningen auswies. Für Pippa kam das etwas zu überraschend; sie musste bremsen und umdrehen. Dann folgte sie ihm den Weg entlang, der sich durch lichten Birkenwald schlängelte. Genüsslich sog sie die milde Luft ein, die nach Frühling und frischer Erde duftete. An den Zweigen der Birken saßen Blattknospen, die bereits kurz davor standen, sich zu öffnen.
Als sie zu Herrn X aufgeschlossen hatte, wiederholte sie die Frage nach Heinrichs Baby.
»Das ist es ja, das weiß man nicht«, erwiderte er. »Christabel hadert bis heute damit, dass sie vielleicht etwas falsch gemacht hat.«
»Wie bitte?« Vor Überraschung trat Pippa abrupt in die Bremse und verlor das Gleichgewicht, denn die Hunde liefen noch ein paar Schritte weiter und schleiften die auf einem Fuß hüpfende Pippa samt Rad ein Stück hinter sich her.
Herr X hielt an, um sie bei ihrem Kampf mit dem Fahrrad und den drei Hundeleinen zu unterstützen. Als alles entwirrt und Pippa wieder standfest war, fragte sie atemlos: »Christabel? Was hat denn Christabel damit zu tun?«
Herr X sah sie erstaunt an. »Weißt du das nicht? Christabel war früher, weit vor der Wende, hier in der Gegend die Hebamme. Sie half bei Hausgeburten oder im Kreißsaal des kleinen Krankenhauses in Storchhenningen.«
»Es muss furchtbar sein, ständig mit dem Gedanken zu leben, etwas getan – oder nicht getan – zu haben, das ein Menschenleben kostete«, sagte Pippa leise und schüttelte sich. »Ich frage mich, wie Leute damit klarkommen, die mutwillig töten.«
Herr X nickte und stieg wieder aufs Rad. Eine Weile fuhren sie schweigend nebeneinanderher. Dann sagte Pippa: »Wenn man diese gemeinsame Vergangenheit bedenkt, finde ich die Freundschaft zwischen Christabel und Heinrich noch bemerkenswerter.«
»Er hat niemals an ihrer Kompetenz gezweifelt, nur am Krankenhaus und an der Schulmedizin.«
»Jetzt verstehe ich auch, warum Heinrich sich der Naturheilkunde verschrieben hat.«
»Das passte gut zu seiner Vorbildung. Er hat in der DDR Biologie studiert, an der Humboldt-Uni in Berlin. Nach der Wende machte er zusätzlich eine Ausbildung zum Heilpraktiker.« Herr X lächelte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es auch nur eine Pflanze in unseren Breitengraden gibt, deren Heilwirkung Heinrich nicht kennt. Er ist eine echte Koryphäe auf seinem Gebiet. Und ein Segen für uns alle.«
»Du bist aber gut über ihn informiert. Gehörst du auch zu den Kunden für seine wundersamen Elixiere?«
»Klar! Ich vertraue ihm. Ich kenne Heinrich schon so lange, wie ich meine Tante Hilda hier besuchen komme. Und das sind schon einige Jahre.«
»Ist sie auch deine modische Beraterin?«
Herr X verstand sofort. »Jedes Jahr bekomme ich einen Pulli von ihr. Dieser hier
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