Ins Leben zurückgerufen
brutaler Gefühllosigkeit gehandelt und Miss Kohler gezwungen, das Krankenhaus zu verlassen und nach Mickledore Hall zurückzukehren, damit er sie verhören könne. Eine ganze Reihe Zeugen bestätigten jedoch, daß die junge Amerikanerin sich geweigert hatte, im Krankenhaus zu bleiben, und es standen nur Mickledore Hall oder ein Befragungszimmer im Präsidium zur Auswahl. Und da es für die Öffentlichkeit obendrein nur darum ging, ob Cissy Kohler das Kind durch egoistische Fahrlässigkeit oder zufällig bei einem Selbstmordversuch tötete, konnte ihr Verteidiger nur wenig Sympathie für sie wecken.
An jenem feiertäglichen Nachmittag brachte man sie zurück nach Mickledore Hall, gab ihr Zeit, die Krankenhauskluft abzulegen und eigene Kleider anzuziehen, und dann machte sich Tallantire trotz der Proteste meiner Mutter daran, sie zu befragen.
Von Anfang bis Ende dauerte das Verhör an die fünf Stunden. Schon bald wurde das Zimmer, in dem es stattfand, zum atmosphärischen Mittelpunkt des Hauses. Eine Polizistin wurde geholt, doch lange Zeit stand sie nur vor der Tür. Man schickte Essen hinein, doch es kam unberührt wieder heraus. Von Zeit zu Zeit tauchte der Superintendent draußen auf, doch keinmal Miss Kohler. Das erste Mal frohlockte er, als würde er rasche Fortschritte machen, doch danach veränderte sich seine Stimmung. Manchmal hörte man seine zornige Stimme durch die geschlossene Tür, und manchmal hörte man deutlich das Schluchzen einer Frau. Cissy Kohler hatte keinen Anwalt zur Seite. Die Polizistin bestätigte aber, daß man ihr angeboten hatte, einen zu holen. Wenn Tallantire nicht im Zimmer war, erledigte er Anrufe oder nahm welche entgegen. Leider gelang es mir trotz aller Bemühungen nicht, eines dieser Gespräche zu belauschen. Doch nach dem letzten Gespräch, so gegen 17 Uhr, sah er aus, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen. Er ging noch einmal ins Zimmer zurück und kam schließlich etwa 50 Minuten später müde, aber triumphierend wieder daraus hervor wie ein Mann, der sein Schiff durch schwere See in den sicheren Hafen gesteuert hatte.
Vor Erleichterung ignorierte er ausnahmsweise meine herumlungernde Wenigkeit.
»Das war’s«, sagte er zu dem Mann mit dem harten Gesicht. »Sie hat’s ausgespuckt. Alles in trockenen Tüchern.«
Wir können nur raten, in welcher Phase des Verhörs Tallantire Kenntnis von den vielen Einzelinformationen für Mickledores Motiv erhielt. Doch ich habe den Verdacht, daß sich vieles erst bei jenem letzten Telefongespräch bestätigte. Die Presse hatte auf jeden Fall genügend Material, um so viele Spalten zu schreiben, wie das Parthenon Fugen hat. Die Tatsachen waren in Kürze die folgenden:
Pamela Westropp und Cecily Kohler, Arbeitgeberin und Angestellte, hatten eine Gemeinsamkeit. Sie liebten Mickledore beide mit obsessiver Leidenschaft, die erstere so, daß sie keine Rivalin in der Nähe des Throns dulden wollte, ganz zu schweigen auf dem Thron, die letztere so, daß sie alles für ihn zu tun bereit war.
Mickledore, der Lebemann, hatte immense Spielschulden, für die er sein Gut verpfändet hatte. Mickledore, der Landjunker, hatte der Tochter des Laird von Malstrath den Hof gemacht und sie für sich gewonnen. George MacFee, ein Whiskymillionär in der zweiten Generation, hatte den Titel zusammen mit mehreren tausend Morgen Moor erworben, auf denen er die Hühner mit besagtem Namen jagen konnte. Micks Motiv war simpel. Er ging davon aus, daß er mit dem Geld der Tochter seine Schulden bezahlen und das Gut retten konnte. Doch es gab ein Problem. Seiner alkoholischen Abstammung und seinen gesellschaftlichen Aspirationen zum Trotz war George MacFee ein devotes Mitglied einer strengen schottischen Sekte. Seine Reaktion auf die Nachricht von den sexuellen und wirtschaftlichen Exzessen seines zukünftigen Schwiegersohns waren so voraussehbar, als stünden sie in der Bibel.
Die Verlobung sollte am folgenden Wochenende in Malstrath Keep, der Burg, die zur Lairdship gehörte, bekanntgegeben werden. Pamela mußte vorher informiert werden. Wahrscheinlich hoffte Mickledore, sie überzeugen zu können, daß seine Vernunftehe ihrer Affäre nicht im Weg zu stehen brauchte. Doch er kannte Frauen gut genug und Pamela insbesondere, um zu wissen, daß ihre Hoffnungen weiter gingen. Es stimmte zwar, daß eine Scheidung dadurch erschwert wurde, daß die Westropps römisch-katholisch waren, aber Pamela arbeitete daran. Deshalb hatte sich der pragmatische Mickledore einen
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